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Manchmal braucht man einen Engel, aber …

… was braucht der Engel eigentlich? Sind Engel dazu da, uns zu beschützen? Oder das, was wir mit der Schöpfung anrichten, auszugleichen? Was für ein Engelbild hast du?

Gedicht: Maren Schönfeld, Buch „Engelschatten“, Verlag Expeditionen, Hamburg 2022 / Bild: Marlis Dammann

Diesen und anderen Fragen wollen wir am 23. Oktober 2023 um 18:30 Uhr mit Christiane Huß von der Stader Bibel- und Missionsgesellschaft und den anwesenden Gästen nachgehen. In einem Online-Gespräch inklusive Kurzlesung aus meinen Engel-Gedichten setzen wir uns mit dem Phänomen der Engel auseinander. Dabei geht es auch um meine Inspirationen für die Engel-Gedichte, deren Entstehung und Wirkung auf Menschen. Und um die unterschiedlichen Engelbilder, die wir haben.

Der Eintritt ist frei, es wird jedoch um Anmeldung per E-Mail gebeten:

https://kapitel17.de/events/lesung-mit-maren-schoenfeld-von-engeln-und-menschen/

Ein Drängen, das auf verstürzten Wegen Freiheit sucht

Gedenken an meinen Freund und Kollegen Winfried Korf (1941-2021)

Karin Grubert und Winfried Korf 2013 bei der Internationalen Gartenschau Wilhelmsburg. Foto: Johanna Renate Wöhlke

Als ich, frisch gebackene Sekretärin der Hamburger Autorenvereinigung, mit dem Korrekturlesen der Beiträge für die Anthologie „Spuk in Hamburg“ (Verlag Expeditionen, Hamburg 2014) befasst war, beeindruckten mich zwei Gedichte eines Lyrikers besonders, den ich bislang nur vom Sehen kannte. Dieser Lyriker arbeitete sehr traditionell, mit einem packend bildhaften und eloquenten Wortschatz, geschliffenem Metrum und gestochenem Versmaß. Wer war dieser Mensch, der einer offiziellen Version der Gattung Lyrik „linksbündiger Flattersatz“ mit althergebrachter Wortgewaltigkeit trotzte?

Bei unserer Lesung zur Vorstellung der Anthologie ließ ich mir auch ihm ein Autogramm auf seine Autorenseite schreiben. Seine Widmung lautete: „In Erinnerung an die glanzvolle Vorstellung unserer Anthologie“. Seine Schrift war genauso wie seine Gedichte: Barock und verschlungen.

Einige Jahre später war unser Kontakt zu einer Freundschaft gediehen, die auch das gemeinsame Arbeiten an unseren Gedichten – für eine ganze Zeit auch zu dritt mit einer weiteren HAV-Kollegin – einschloss. Wir diskutierten, manchmal hart, über Formulierungen und den Sinn von Interpunktion in Gedichten. Man konnte sich an ihm die Zähne ausbeißen! Aber gerade das machte es so spannend, denn sein Humor verließ ihn dabei nie. Unsere völlig unterschiedliche Art zu schreiben war kein Hindernis, sondern gerade eine Bereicherung. Dabei hatte Winfried die Angewohnheit, zu „schweren Fällen“ nicht nur Bearbeitungsvorschläge zu unterbreiten, sondern ein eigenes Parallelgedicht zu schreiben. Eine einzigartige Erfahrung, die eine völlig neue Perspektive auf den eigenen Text eröffnete.

Diese Parallelgedichte sind nun, gut anderthalb Jahre nach seinem Tod, neben seinen wunderbar gestalteten handschriftlichen Briefen und seinen Gedichten, ein großer Schatz für mich.

Winfried Korf war Maler, Zeichner, Lyriker. Er war auch Historiker, Dozent in der Erwachsenenbildung und Dramaturg, er spielte Klavier, er war ein Tausendsassa. Und er war ein Mensch, der niemals stillzustehen schien. Wenn er nicht schrieb, zeichnete er. Wenn er nicht malte, fotografierte er. Er war ein Getriebener, manchmal kam er mir vor wie jemand, dessen Kerzen an beiden Enden brannte. In seiner letzten Lebensphase sagte er mehrmals, er könne noch nicht sterben, er habe noch zu viel vor. Und bis zu seinem letzten Tag am 14.12.2021 schrieb und malte er, unermüdlich. Die Überschrift dieses Textes, ein Zitat aus seinem Gedicht „Ewige Wanderung“ (Buchtitel s. u.) erscheint mir wie eine Beschreibung seines Wesens. Das Drängen, das ihn antrieb, blieb bis zum letzten Moment. Er hinterließ Mengen an Werken in Wort und Bild, ein Gesamtkunstwerk, das seine Frau Karin Grubert nun unermüdlich ordnet, sortiert und erfasst. Berührend dabei ist, dass er selbst vieles zusammengestellt hatte, das Ordnen seiner künstlerischen Dinge könnte man als Vermächtnis auffassen.

Uns verband die Lyrik, die Literatur, ein wenig auch die Malerei. Natürlich flossen in unsere Gespräche seine umfangreichen Kenntnisse aus den anderen Bereichen seines Wissens ein, aber nie schulmeisterlich, sondern immer dezent, zurückhaltend und bereichernd. Sein Sinn für das Schöne, der Hang, jede Box für Notizzettel, jede Schachtel, jede Mappe mit künstlerischen Elementen zu veredeln, umgab ihn wie ein Raum, in dem er lebte. Alles, was er anfasste, machte er zu Kunst.

Unsere Gespräche über unsere Gedichte, aber auch über andere Literatur, über das Leben, Gott und die Welt, den Garten, die Liebe – diese Gespräche fehlen mir unendlich. Dankbar bin ich dafür, dass wir uns begegnet sind. Dankbar auch für seine Gedichte, mit denen er seine Handschrift hinterlassen hat. Spät entdeckte er, der Reimdichter, das ungereimte und minimalistische Haiku; eine Form, der er exzessiv frönte und sie auch mit seinen Fotografien zusammenbrachte. Vielleicht hätte er heute, bei einer Feier anlässlich seines 82. Geburtstag, in fröhlicher Runde welche zitiert. Ganz bestimmt ist dieser Tag ein Anlass, in seinen Gedichtbänden zu lesen. Dies ist eins meiner Lieblingsgedichte:

Auf dem Stege
Betrachtungen im Böhmerwald

Immer anders, immer gleich: Geweb’ der Wellen,
Die hurtig über Wehr und Felsen schnellen,
Im Lichte springen, gleich gejagten Rudeln
im dunklen Grunde unter Wurzeln strudeln.

Immer gleich und immer anders: Streit der Steine.
Jeglicher am andern und für sich alleine
Werden sie flussab geschoben und im Schieben
Aneinander zu Geröll und Sand zerrieben
Und als Stoff zum späteren Gebären
Neuer Bergeswelt begraben in den Meeren. –

„Du steigst nicht zweimal in denselben Fluss“:
Er ist es und er ist es nicht.
Du bist es und du bist es nicht.
Wir alle ändern Leben, Lauf, Gesicht –
Ein jeglicher nach seinem Muss.

Und doch ist’s nur die eine Sphäre,
Darin Zerstörer durch die Zeiten kreisen,
Sich steigern, gipfeln, mindern und zerreißen,
Sich verflammend ineinander schweißen
Zu Gestalten, schmelzend in der Leere,

Daraus der Geist sich seine Körper schafft:
Die Dinge als Verdichtungen der Kraft.
Von dem Stege zwischen Hier und Dort,
Von seines Bogens aufgewölbtem Ort,
Der, keines Ufers Eigen, beide bindet
Und überschreitet und kein Ziel je findet,

Schau‘ ich hinunter auf das Schnellen,
Auf das Geweb‘ der Steine und der Wellen:
Strömen, strömen, strömen – Takt der Zeit,
Verschränkt in den Kristall der Ewigkeit.

Winfried Korf (1941-2021): Wanderung im Abend, BoD, Norderstedt 2016

Titel von Winfried Korf bei Amazon: https://www.amazon.de/s?k=winfried+korf&crid=11IILNECC0KER&sprefix=winfried+korf%2Caps%2C89&ref=nb_sb_noss

Es geht wieder los!

Endlich wieder eine Online-Lesung…

Ein Maitag. Haiku und mehr

Online-Lesung mit Bildern und Musikvideos

Der Übergang vom Frühling zum Sommer ist ein Aufbruch in die wärmste Zeit des Jahres. Was kann also das Herz mehr erwärmen als Poesie? Zwei Haiku-Dichter aus Brixen und Hamburg finden sich zusammen, um ihre Haiku, Senryu, Tanka und Haibun vorzulesen. In der Live-Lesung wird auch eine Bildergalerie gezeigt. Umrahmt werden die poetischen Texte von Musikvideos von Ulrike Gaate und Thomas Styhn, die deren Stimmung aufnehmen und ein meditatives Nachklingenlassen ermöglichen.

Gontran Peer dichtet deutschsprachige Gedichte nach japanischem Vorbild, die sich an der traditionellen japanischen Kurzlyrik orientieren. Er ist seit 2018 Gründer sowie Leiter der Haiku Arbeitsgruppe Südtirol und lebt und arbeitet in Brixen. Er dichtet seit 1991 und veröffentlicht seit 2009 deutschsprachige Haiku, Senryu und Tanka.
Maren Schönfeld stieß vor vielen Jahren bei der Suche nach der kürzesten Gedichtform auf das Haiku. Seitdem haben die japanischen Formen sie nicht mehr losgelassen. Sie schreibt Haiku, Senryu, Tanka, aber auch das mit Prosa verbundene Haibun. Maren Schönfeld lebt und arbeitet in Hamburg und hat mehrere Lyrikbände veröffentlicht. Sie leitet auch Workshops zum Schreiben japanischer Formen.
Beide Autoren verbindet eine Schriftstellerfreundschaft, sie schreiben auch gemeinsame Gedichte. In dem Onlineformat werden sie die Entfernung zwischen Brixen und Hamburg verschwinden lassen und gemeinsam mit den Gästen in eine meditative und informative Multimedia-Performance eintauchen.
Ulrike Gaate hat ebenso wie Thomas Styhn die musikalische Leidenschaft um das Medium Film erweitert. Sie verbindet ihre Klavierimprovisationen mit Natur- und Tiermotiven, was den Naturbezug zum Haiku aufnimmt. Thomas Styhn setzt seine Kompositionen für E-Gitarre auch mit surrealen Filmmotiven in Beziehung und schlägt damit einen Bogen zum Senryu. Die unterschiedlichen Arten der Musikvideos bilden einen reizvollen Kontrast, der die verschiedenen literarischen Kurzformen widerspiegelt.

Wo: Online per Zoom
Wann: 25. Mai 2023 um 19 Uhr
Eintritt: € 8.
Buchung über Eventbrite

Sandtorte

Die Küche, immer blitzsauber, roch nach Ferien, als sei vor Kurzem gebacken worden. Die Schüsseln aus braunem Steinzeug rochen irden, ein klarer Duft. Bei ihrem Anblick und wenn ich eine herausholen sollte aus dem Schrank, wenn ich ihre kühle Glätte spürte, dachte ich an den Krieg. Denn mir war gesagt worden, dass diese Schüsseln aus der Kriegszeit stammten. In der größten der drei rührte meine Großmutter Kuchenteige an, mit einem Holzlöffel und nur in eine Richtung, wenn es ein Sandkuchen werden sollte. „Sandtorte“ hieß das bei uns, obwohl es mit einer Torte nichts zu tun hatte. Ich beobachtete fasziniert, wie aus Fett, Eiern, Zucker und Mehl nach und nach eine homogene Masse entstand. Großmutter hielt die Schüssel mit dem linken Arm an ihren Leib gedrückt und rührte mit rechts. Endlos. Wenn alles gut verrührt war, stellte sie die Schüssel auf der Arbeitsfläche ab. Nun durfte ich auch rühren, schaffte aber kaum mehr als drei oder vier Runden. Aus der Kriegszeitschüssel füllte Großmutter den Teig in die noch ältere Kastenform, die aus dem Haushalt meiner Urgroßmutter stammte. In der folgenden Stunde lief ich immer wieder zum Herd, um durch das Fenster der Ofentür zu schauen, ob der Kuchen aufging.

In all den Jahren
hatte sie nie einen Fleck
Großmutters Schürze

Aus meiner Werkstatt 2022

Wieder kamen einige meiner Gedichte in die Welt, worüber ich mich sehr freue. Ganz vorn auf der Freudesliste ist mein Gedichtband „Engelschatten“, gleichzeitig mein 10. Buch, erschienen im Verlag Expeditionen. Mehr dazu gibt es hier:

https://schoenfeld.blog/eine-seite/engelschatten/

Mit den Engeln wird es in diesem Jahr eine Multimedia-Onlinelesung geben und vielleicht auch die eine oder andere Präsenzveranstaltung.

Haiku

Ingo Cesaro hat mit „Fund im Tagebuch“ den schweren Zeiten und knappen Papiervorkommen zum Trotze wieder eine wunderbare, handgebundene Anthologie mit Haiku (Neue Cranach Presse Kronach) herausgebracht, in der ich mit einigen Haiku ebenso vertreten bin wie in Volker Friebels Haiku-Jahrbuch 2021 mit dem Titel „Quarantäne unter Sternen“ (Edition Blaue Felder, Tübingen). Ingo Cesaros Markenzeichen sind diese handgebundenen und hochwertig verarbeiteten Anthologien, die in der deutschsprachigen Haiku-Welt bekannt sind. Mehr dazu findet Ihr auf seiner Website: https://ingo-cesaro.de/

Volker Friebel hat sich mit seinen jährlich erscheinenden Jahrbüchern etwas vorgenommen: „Das Haiku-Jahrbuch ist der Versuch, ein Gedächtnis des deutschsprachigen Haiku aufzubauen. Grundlage für das seit 2003 erscheinende Jahrbuch sind die bei Haiku heute veröffentlichten oder eingereichten Texte sowie die für das Jahrbuch direkt eingereichten Texte, die im jeweiligen Jahr geschrieben oder erstveröffentlicht wurden. Jedes Jahrbuch soll einen Überblick über das geben, was sich im jeweiligen Jahr in der deutschsprachigen Haiku-Welt getan hat. Es werden also durchaus im jeweiligen Jahr schon an anderer Stelle, etwa in Büchern der Autoren oder auf anderen Netzpräsenzen veröffentlichte Haiku aufgenommen.“ (Zitat von seiner Website www.haiku-heute.de)

Weitere Haiku sind in zwei Ausgaben der Vierteljahresschrift „SOMMERGRAS“ der Deutschen Haiku-Gesellschaft, Hamburg, erschienen; eins davon im Rahmen einer Rezension der Anthologie „Fund im Tagebuch“ von Rüdiger Jung. Die Literaturzeitschrift „SOMMERGRAS“ enthält sowohl Fachaufsätze zu japanischen literarischen Formen als auch lyrische Beiträge von einzelnen Dichterinnen und Dichtern sowie gemeinsame Dichtungen wie Tan-Renga. Außerdem findet man in der Zeitschrift auch Haibun und Haiga, sie ist damit sehr geeignet, um sich einen Eindruck von den japanischen Formen zu verschaffen. Unter https://haiku.de/ könnt Ihr Euch bei der DHG umschauen.

Zweisprachige Veröffentlichung

Eine schöne Überraschung und Premiere hat mir Cleo Wiertz aus Strasbourg bereitet, indem ein Gedicht auf Deutsch und in französischer Übersetzung in ihrer wunderschönen Anthologie „Mohn – Coquelicot“, Selfpublishing, enthalten ist. Das ist die erste französische Übersetzung eines meiner Gedichte, dazu im schönen Kontext stimmungsvoller Fotos und vieler ansprechender lyrischer Texte. Cleos Website: https://cleo-wiertz-textures.com/

Noch mal Literaturzeitschrift

Last, but not least erreichte mich die frohe Kunde aus Weßling, dass ein Gedicht aus meiner Feder es in die Zeitschrift „DAS GEDICHT“ geschafft hat, das in diesem Jahr als Jubiläumsausgabe zum dreißigjährigen Bestehens der Zeitschrift veröffentlicht wurde. Es sind humorvolle und vielseitige Gedichte darin, eins meiner wenigen lustigen Gedichte ist hier also festgehalten. „DAS GEDICHT“ erscheint jährlich im Anton Leitner Verlag in Weßling bei München. https://aglv.com/

Seit Kurzem ist mein Etsy-Shop am Start! Neben meinen Büchern gibt es dort auch die Buchboxen, Poesie-Postkarten und Zeichnungen von mir. Der Bestand wächst langsam, aber kontinuierlich. Handgezeichnete und Origami-Lesezeichen werden noch folgen. Ihr könnt den Shop abonnieren, schaut doch mal vorbei:

https://www.etsy.com/de/shop/SchoenfeldsPoesie

Und was kommt jetzt?

Bevor Ihr fragt: In diesem Jahr wird es keinen Einzeltitel von mir geben, nachdem ich seit 2018 zwei Sachbücher und drei Lyrikbände veröffentlicht habe. Dieses Jahr freue ich mich darauf, mich zum Schreiben und Bearbeiten zurückzuziehen. Einiges wartet auf Hinwendung, so ist eine ganze Sammlung an Naturgedichten zusammengekommen, es gibt Haiku, Tanka, Haibun und Haiga, die auf Bearbeitung harren, und ein Projekt mit christlichen Kurzgedichten zu Bibelversen. All das und die journalistische Arbeit wird in der Werkstatt in diesem Jahr bearbeitet werden und ich bin selbst gespannt, was dabei herauskommen wird… Ihr werdet es ganz bestimmt erfahren 🙂

Hinter den Bergen wechseln die Farben

Der gut hundert Seiten umfassende Gedichtband beginnt mit „Wach auf“ und endet mit der Sonne. Dieses „Wach auf“ mag Erzählung und Aufforderung zugleich sein, und zwischen diesem Aufwachen und der Sonne kann eine Nacht, ein Jahr oder ein ganzes Leben liegen. Gino Leinewebers Gedichte kommen wie aus einem Atemzug geboren daher, wie ein Bewusstseinsstrom, kontinuierlich und mit einem gewissen Tempo, aber nicht atemlos, eher als meditative Reise durch die Innenwelt. Faszinierend dabei ist, dass es nicht bei dem Einblick in die Innenwelt des Dichters bleibt, sondern dort beginnt und in die Innenwelt der Leserin führt. Aufwachen also, und dann die Reise durch Verse, Gedichte, Seiten beginnen. Sehr weniges wird benannt und auserzählt, sehr vieles angedeutet, und darin liegt auch das Geheimnis dieser lyrischen Rezeptur: „ (…) Sie tut dann so als ob … // Doch ich weiß / Sie hat mich im Blick / Lässt mich nie / Aus den Augen (…)“ (S. 10) Diese Andeutungen, mit denen der Dichter Empfindungen beschreibt, die man selbst womöglich gar nicht in Worte kleiden könnte oder die zu benennen einem nicht eingefallen wäre, treffen direkt ins Schwarze. Was ist Realität? Wie frei ist der viel beschworene Freie Wille? Es geht ums Erkennen, Versäumen, um Mut und vor allem um die Vergänglichkeit. Um die Kraft von Gedanken, nicht zuletzt darum, frei zu werden, wüsste man, was das bedeutet. Gehen wir mit mehr Erkenntnissen von dieser Welt, als wir gekommen sind? Sehen wir die reale Welt oder bauen wir uns eine Welt aus dem, was wir sehen?

Alle Gedichte sind miteinander verbunden, ohne dass auf den ersten Blick offensichtliche Bezüge bestehen. Es empfiehlt sich, das Buch direkt hintereinander zweimal zu lesen, damit sich diese ganz offenbaren. Wie weit beispielsweise Erlebnisse der Kindheit in den Rest des Lebens hineinwirken, lässt sich in diesem Lyrikband finden. Ob wirklich jemand unter der Treppe sitzt oder ob einer gleich mal da hochkommt – viele kennen solche „Erziehungsmaßnahmen“, und in der Beschäftigung mit diese Gedichten sind für mich viele vage Momente, Erlebnisse und Prägungen aus meinem Leben klar und greifbar geworden.

Dabei bleibt Gino Leineweber nicht im Detail, sondern schaut immer auf das große Ganze, wirft einen philosophischen Blick auf das Leben. Trotz der auch schweren Themen schafft er es, mit Humor die manchmal komplizierten und leicht abgehobenen Gedankengänge zu erden: „(…) Kann es sein / Dass ich mich nur denke? // Könnte sein!“ (S. 94).

Einiges habe ich nach der Lektüre aus einer anderen Perspektive betrachtet, zum Beispiel Traurigkeit:

Traurig zu sein
Wird unterschätzt
Es heißt nicht
Wie beim Glück
Hinterherlaufen und einfangen

Traurig zu sein
Kommt von allein
Meist unverhofft
Man bleibt für sich
Keiner will etwas abhaben

Traurig zu sein
Heißt die Kontrolle zu verlieren
Man fühlt für sich allein
Kann sich hingeben
Sieht sich selbst

(S. 98)

Die Gedichte dieses Bandes sind in nur einer Woche entstanden, wie der Klappentext verrät. Es ist also tatsächlich eine Art Bewusstseinsstrom in Lyrik, und man kann sich diesem Strom hingeben, alle Gedichte hintereinander weglesen und wieder von vorn anfangen, als wandelte man Seite an Seite mit dem Dichter durch die Landschaft oder säße mit ihm in einem Zug auf einer weiten Reise. Das habe ich getan, aber danach konnte ich mich auch nicht recht von dem Buch trennen. Nun schlage ich es willkürlich auf und lese ein Gedicht, manchmal auch zwei oder drei. Manchmal lache ich, manchmal bin ich nachdenklich oder den Tränen nah. In jedem Fall gehört dieser Band in meine private Kategorie „Ein Buch wie ein Freund“, und so kann ich ihn all jenen empfehlen, die gern über den eigenen Tellerrand schauen. Vielleicht bis zu den Bergen, hinter denen die Farben wechseln. (S. 9)

Gino Leinweber: Eine Weile Schon (Gedichte), 104 S., Verlag Expeditionen, Hamburg 2020

Verheddert in der Weltwahrnehmung*

Die Schweizer Lyrikerin Ruth Loosli hat mit „Mojas Stimmen“ ihren ersten Roman vorgelegt, der mit ausgefeilter Erzählkunst, dichter Atmosphäre und geschliffener Sprache beeindruckt.

Ruth Loosli
(Foto: Anne Bürgisser)

Hauptpersonen der Erzählung sind Paula und ihre fünfundzwanzigjährige Tochter Moja, die durch eine psychische Erkrankung buchstäblich aus dem geregelten Leben mit eigener Wohnung und Arbeitsplatz fällt. Vor Paulas Augen verschwindet Moja in eine für die Mutter unerreichbare und unverständliche Welt, in der Moja Stimmen hört, die ihr diktieren, was sie tun soll. Unermüdlich sucht Paula Wege zu ihrem Kind und muss sich doch abgrenzen, ist zwischen Wut und Verzweiflung hin- und hergerissen, will alles regeln und ordnen und muss erleben, dass sich diese Situation nicht ordnen lässt.

Das Thema ist in einer Zeit, in der viele junge Menschen Depressionen und andere psychische Krankheiten entwickeln, hochaktuell. Das Phänomen, dass vor allem junge Männer keinen Drang mehr verspüren, das elterliche Zuhause zu verlassen und selbstständig zu werden, lässt die betroffene Elterngeneration vielfach ratlos zurück. Eine Studie aus dem Jahr 2019 ergab, dass junge Erwachsene ihr Elternhaus im Schnitt mit 23,7 Jahren verlassen, was im europäischen Vergleich noch früh ist. In Kroatien verlassen die Kinder dagegen erst mit fast 32 Jahren ihr Elternhaus.[i]

Auch Paula überlegt, ihre erkrankte Tochter wieder zu sich zu nehmen, aber sie erkennt, dass das nicht möglich ist, dass sie sich dann nicht mehr würde schützen können. Ohnehin fühlt sie sich der Situation hilflos ausgeliefert, und ihre zupackende, organisierende Art hilft ihr in diesem Fall nicht – eher im Gegenteil. Sofort ist Moja verprellt und „macht dicht“, sobald ihre Mutter tatkräftig die Probleme angehen will, mit ungeöffneter Post kommt und fragt, wann Rechnungen bezahlt werden. Es ist ein ständiger Balanceakt aus dem Versuch, Nähe herzustellen, und dem immer wieder geschehenden Bruch, wenn Moja plötzlich fortgeht. Beim Lesen bangt man schon vor jedem Treffen, dass es wieder passiert.

Buchbox „Trost und Zuversicht“

„Der Boden des Dunkels“ ist in überarbeiteter und erweiterter Neuauflage im Verlag Expeditionen, Hamburg, erschienen. Passend dazu habe ich eine Box mit schönen und leckeren Kleinigkeiten zusammengestellt.

Neben dem Buch gibt es ein handgezeichnetes Lesezeichen, drei Postkarten, ein Teelicht im Glas, eine Trinkschokolade zum Aufgießen, eine Portion Tee und einen Schokotaler. 🙂

Das Buch kostet solo € 12,50, die Box inklusive Buch € 22,50 (zzgl. Versand). Bestellen können Sie mit dem Kontaktformular.