Felsenfest

Wie immer stellt er fest, steht es fest, unumstößlich, steht er im Raum wie eine Wand. So war es zeit ihres Lebens gewesen. Vater und sein felsenfester Standpunkt. Nie hat Mutter dagegen aufbegehrt. Sie, die Tochter, erst recht nicht. Und nun erscheint es ihr wie ein stiller Protest, eine nachträglich für 30 Ehejahre aufbrechende, geballte Renitenz. Mutter vergisst das Mittagessen, die Wäsche, den Staubsauger. Sie pflückt Blumen aus dem Garten und verschenkt sie an Passanten. Sie macht die Nacht zum Tag. Sie tanzt im Wohnzimmer zu einer Musik, die es nur in ihrem Kopf gibt.

 „In unserer Familie gibt es keine Demenz“, donnert er, als die Polizei  Mutter bringt. Sie guckt durch die Tür, wendet sich dann an den Polizisten.

„Das ist nicht mein Zuhause.“

Es ist noch da

Ein Text von mir für die Reihe @introspektivminiaturen der http://www.prosa_ist_innen.de

Sie hatte alles zurückgelassen: die Möbel, die Wohnung, die Wege, die Stadt. Die Menschen, die ihr Leben ausgemacht hatten. Ein neuer Ort, neue Menschen. Alles neu. Und dann saß sie in ihrer Küche, still, am Fenster. Und plötzlich merkte sie, dass es mitgekommen war, sich augenscheinlich unbemerkt an ihre Fersen geheftet hatte. Der Duft frisch renovierter Zimmer konnte nicht darüber hinwegtäuschen: Es stand im Raum, übermächtig. Sie spürte, wie die Verzweiflung langsam in ihr hochkroch, von den kalten Füßen bis zum Hals. Wie sie ihr die Luft fast abdrückte. Sie zwang sich, tief zu atmen, aus dem Fenster zu sehen, ins Grüne. Ihren Tee zu trinken, kleine Schlucke, einen, zwei, drei. Die Verzweiflung mit Tee runterzuspülen. Es wartet auf sie. Gewiss.

Ausgelistet

Als ich 2020 meine erste Multimedia-Onlinelesung für mein Buch „Töne, metallen, trägt der Fluss – eine lyrische Elbreise“ plante und nachschauen wollte, wie der Verkaufsrang auf Amazon war, staunte ich nicht schlecht: Das Buch war plötzlich nur noch gebraucht erhältlich, dabei war es gerade mal zwei Jahre alt. Für einen Gedichtband sind zwei Jahre nichts, denn immerhin sind in meinen Gedichtbänden meist Texte aus zehn Jahren versammelt. Böses ahnend, schaute ich auch nach dem Titel „Die Peripherie des Lichts“ aus dem Jahr 2014. Der war ebenfalls nicht mehr neu zu bekommen. Der Wiesenburg-Verlag teilte mir mit, dass die Titel ausgelistet worden waren. Das war ein Moment, in dem ich bereut habe, die Titel nicht als Selfpublishing veröffentlicht zu haben, denn kurioserweise wurden meine beiden Selfpublishingtitel (2005 und 2011) nicht ausgelistet.

Ich habe daraufhin die kleinen Restbestände günstig vom Wiesenburg Verlag gekauft, damit ich sie noch weiterhin anbieten kann.

Ein Gedicht, das mir sehr am Herzen liegt und das mich auch immer wieder beschäftigt, kam mir gestern in den Sinn. Es passt in die triste Jahreszeit, in das Verharren der Natur, bevor das Leben wieder erwacht.

Blutbuche im Heinepark

Leibhaftig

Stehst du noch
Borke an Haut
kannst umfassen was
sich rau an dich schmiegt doch
dieser Gefährte wird auch dich
überdauern schrittweise
münden Tage ins Poröswerden
durchlässig zuletzt

(aus „Die Peripherie des Lichts“, Wiesenburg Verlag, Schweinfurt 2014)

Stade trifft Hamburg

Bei der Offenen Lesebühne Hamburg-West wird es am 19. Januar 23 ein besonderes Zusammentreffen geben: Die Autorin des Abends, Sulamith Sommerfeld aus Stade, wird ihre wunderbaren Gedichte vorlesen. Diese Gelegenheit habe ich beim Schopfe gepackt, um die Stade-Fraktion zu verstärken. Mein Autorenfreund Thomas Dunse aus Stade liest ebenfalls und ich als Halb-Staderin werde die dritte im Bunde sein.

Thomas und ich kennen uns seit fast 30 Jahren, hatten in Stade früher einen gemeinsamen Literaturkreis und haben schon Lesungen zusammen gemacht. Um Sulamith kennenzulernen, mussten sie und ich allerdings erst nach Weßling bei München reisen, wo wir zusammen an einem Literaturseminar bei Anton G. Leitner teilnahmen. Das ist ungefähr 20 Jahre her. Seitdem begegneten wir uns hin und wieder, einige unserer Gedichten fanden in dieselben Literaturzeitschriften. Im letzten Jahr schrieb sie mir, worüber ich mich sehr freute, wir trafen uns und sind jetzt im enger werdenden Gespräch und Kontakt.

„Die Maschine“, Thomas Dunse

Sulamiths und meine Gedichte haben thematische Überschneidungen, auch wenn wir sehr unterschiedlich schreiben. Thomas ist ein Realpoet und bildet einen Kontrast, auch wenn er wie Sulamith und ich Themen des Zeitgeschehens und des Daseins in Prosa und Lyrik verhandelt.

Dies ist also eine Gelegenheit, meine Stader und meine Hamburger Gemeinschaft Schreibender auch zum Austausch zusammenzubringen und für die Gäste ebenfalls ein feiner Anlass, mal wieder Gedichte zu hören. Ich werde aus den Engel-Gedichten lesen.

„Engelschatten“, Maren Schönfeld, Verlag Expeditionen

Offene Lesebühne Hamburg-West im Stadtteilzentrum „Die Motte“,
Eulenstr. 43, 22765 Hamburg
Donnerstag, 19. Januar 23, 19 Uhr
Eintritt 2 Euro

Aus meiner Werkstatt 2022

Wieder kamen einige meiner Gedichte in die Welt, worüber ich mich sehr freue. Ganz vorn auf der Freudesliste ist mein Gedichtband „Engelschatten“, gleichzeitig mein 10. Buch, erschienen im Verlag Expeditionen. Mehr dazu gibt es hier:

https://schoenfeld.blog/eine-seite/engelschatten/

Mit den Engeln wird es in diesem Jahr eine Multimedia-Onlinelesung geben und vielleicht auch die eine oder andere Präsenzveranstaltung.

Haiku

Ingo Cesaro hat mit „Fund im Tagebuch“ den schweren Zeiten und knappen Papiervorkommen zum Trotze wieder eine wunderbare, handgebundene Anthologie mit Haiku (Neue Cranach Presse Kronach) herausgebracht, in der ich mit einigen Haiku ebenso vertreten bin wie in Volker Friebels Haiku-Jahrbuch 2021 mit dem Titel „Quarantäne unter Sternen“ (Edition Blaue Felder, Tübingen). Ingo Cesaros Markenzeichen sind diese handgebundenen und hochwertig verarbeiteten Anthologien, die in der deutschsprachigen Haiku-Welt bekannt sind. Mehr dazu findet Ihr auf seiner Website: https://ingo-cesaro.de/

Volker Friebel hat sich mit seinen jährlich erscheinenden Jahrbüchern etwas vorgenommen: „Das Haiku-Jahrbuch ist der Versuch, ein Gedächtnis des deutschsprachigen Haiku aufzubauen. Grundlage für das seit 2003 erscheinende Jahrbuch sind die bei Haiku heute veröffentlichten oder eingereichten Texte sowie die für das Jahrbuch direkt eingereichten Texte, die im jeweiligen Jahr geschrieben oder erstveröffentlicht wurden. Jedes Jahrbuch soll einen Überblick über das geben, was sich im jeweiligen Jahr in der deutschsprachigen Haiku-Welt getan hat. Es werden also durchaus im jeweiligen Jahr schon an anderer Stelle, etwa in Büchern der Autoren oder auf anderen Netzpräsenzen veröffentlichte Haiku aufgenommen.“ (Zitat von seiner Website www.haiku-heute.de)

Weitere Haiku sind in zwei Ausgaben der Vierteljahresschrift „SOMMERGRAS“ der Deutschen Haiku-Gesellschaft, Hamburg, erschienen; eins davon im Rahmen einer Rezension der Anthologie „Fund im Tagebuch“ von Rüdiger Jung. Die Literaturzeitschrift „SOMMERGRAS“ enthält sowohl Fachaufsätze zu japanischen literarischen Formen als auch lyrische Beiträge von einzelnen Dichterinnen und Dichtern sowie gemeinsame Dichtungen wie Tan-Renga. Außerdem findet man in der Zeitschrift auch Haibun und Haiga, sie ist damit sehr geeignet, um sich einen Eindruck von den japanischen Formen zu verschaffen. Unter https://haiku.de/ könnt Ihr Euch bei der DHG umschauen.

Zweisprachige Veröffentlichung

Eine schöne Überraschung und Premiere hat mir Cleo Wiertz aus Strasbourg bereitet, indem ein Gedicht auf Deutsch und in französischer Übersetzung in ihrer wunderschönen Anthologie „Mohn – Coquelicot“, Selfpublishing, enthalten ist. Das ist die erste französische Übersetzung eines meiner Gedichte, dazu im schönen Kontext stimmungsvoller Fotos und vieler ansprechender lyrischer Texte. Cleos Website: https://cleo-wiertz-textures.com/

Noch mal Literaturzeitschrift

Last, but not least erreichte mich die frohe Kunde aus Weßling, dass ein Gedicht aus meiner Feder es in die Zeitschrift „DAS GEDICHT“ geschafft hat, das in diesem Jahr als Jubiläumsausgabe zum dreißigjährigen Bestehens der Zeitschrift veröffentlicht wurde. Es sind humorvolle und vielseitige Gedichte darin, eins meiner wenigen lustigen Gedichte ist hier also festgehalten. „DAS GEDICHT“ erscheint jährlich im Anton Leitner Verlag in Weßling bei München. https://aglv.com/

Seit Kurzem ist mein Etsy-Shop am Start! Neben meinen Büchern gibt es dort auch die Buchboxen, Poesie-Postkarten und Zeichnungen von mir. Der Bestand wächst langsam, aber kontinuierlich. Handgezeichnete und Origami-Lesezeichen werden noch folgen. Ihr könnt den Shop abonnieren, schaut doch mal vorbei:

https://www.etsy.com/de/shop/SchoenfeldsPoesie

Und was kommt jetzt?

Bevor Ihr fragt: In diesem Jahr wird es keinen Einzeltitel von mir geben, nachdem ich seit 2018 zwei Sachbücher und drei Lyrikbände veröffentlicht habe. Dieses Jahr freue ich mich darauf, mich zum Schreiben und Bearbeiten zurückzuziehen. Einiges wartet auf Hinwendung, so ist eine ganze Sammlung an Naturgedichten zusammengekommen, es gibt Haiku, Tanka, Haibun und Haiga, die auf Bearbeitung harren, und ein Projekt mit christlichen Kurzgedichten zu Bibelversen. All das und die journalistische Arbeit wird in der Werkstatt in diesem Jahr bearbeitet werden und ich bin selbst gespannt, was dabei herauskommen wird… Ihr werdet es ganz bestimmt erfahren 🙂

Wie war es …

Wie war es für Euch, Weihnachten zu feiern? Bedrückt? Unbeschwert? Gedämpft? Oder „jetzt erst recht“?

Ich war in zwei Gottesdiensten und dankbar dafür, wie gut ich es habe. Wir haben gesungen und uns gefreut. Wir haben gebetet und einige haben geweint. Wir haben Kerzen angezündet, viele Kerzen. Für einen, der im Sterben liegt. Für drei, die Weihnachten im Krankenhaus verbringen. Für einen, der mit Dreißig eine rätselhafte und deprimierende Krankheit hat. Für eine, die eine schwere Diagnose bekommen hat. Für eine, deren Energiekosten sie in die Armut zu stürzen drohen. Für eine, die ihre Wohnung verloren hat. Bei den Fürbitten, die auch Kriegsopfer und andere Menschen in Not und Elend umfassen, wurde mir schwer ums Herz.

Ich möchte dem einen Engel entgegenstellen. Keinen Engel, der im Wallekleidchen und mit goldenen Locken um den Christbaum mäandert. Sondern einen Engel, der klare Kante zeigt. Der ein breites Kreuz und breite Schultern hat. Einer von der Sorte, die mit Feuerrädern auf die Erde kommen. Einen Engel, an dem niemand vorbeikommt.

„Ein Jahr noch, und dann ist es aus“

Diesen Satz sagt Felix zu seiner Geliebten Marie, als sie im Prater in einem Wirtshaus sitzen. Dieser Satz ist der Anfang eines Verhängnisses, das Arthur Schnitzler in seiner Novelle „Sterben“ auf 134 Seiten aufrollt und von allen Seiten beleuchtet, auf so packende Weise, dass man das Buch kaum weglegen mag.

Felix ist krank, sterbenskrank – oder glaubt er nur, es zu sein? Es gibt allenfalls diffuse Symptome.  Sein Arzt Alfred äußert sich gleichzeitig so vage, resolut und Mut machend, dass es argwöhnisch macht. Entweder ist Felix ein Hypochonder oder ein todkranker junger Mann. Jedenfalls ist er davon überzeugt, in einem Jahr sterben zu müssen. In ihrer Verzweiflung und Angst verspricht Marie, mit ihm zu sterben.

Man könnte glauben, dass dies ein trauriges, vielleicht gar trostloses Buch sei, resignativ durch das schwere Thema. Dass es kein Happy End geben wird, ist in der Atmosphäre der Geschichte angelegt. Wie das Ende aussehen wird, jedoch nicht, es bleibt bis zum Schluss spannend. Und nicht weniger spannend ist die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens, der Liebe, des Schönen und des Schrecklichen. Schnitzlers unvergleichliche, poetische Sprache schafft eine oszillierende Schönheit, die – gepaart mit der inhaltlichen Spannung – den Leser in den Bann schlägt.

Im Spannungsfeld der starken Nähe zweier Verschwörer in Erwartung des baldigen gemeinsamen Endes und der großen Entfremdung, als Marie von ihrem Lebenswillen gepackt wird, fühlt man als Leser mal mit der einen, dann mit der anderen Figur, ist hin- und hergerissen und kann es kaum aushalten, nicht zu wissen, was nun wirklich los ist. Denn Schnitzler benennt die Krankheit an keiner Stelle, man weiß sehr lange nicht, ob Felix wirklich krank ist oder sich alles nur einbildet.

So geht es auch Marie. Während eines Kuraufenthalts in den Bergen scheint Felix wieder zu genesen, das quälende Versprechen Maries, mit ihm in den Tod zu gehen, scheint sie nicht einhalten zu müssen. Fast könnte man glauben, dass nun alles gut würde. Fast. Wenn da nur nicht dieser immerwährende Zweifel wäre, den Arthur Schnitzler meisterhaft zwischen den Zeilen hält.

Wie diese großartige Novelle endet, soll hier nicht vorweggenommen werden. „Sterben“ ist ein wunderbares Buch für den November, für die stillere Zeit. Der Verzicht auf drastische Schilderungen und Effekte macht die Erzählung stark und zeigt, wie weite Räume sich mit poetischer, bildhafter Sprache und Andeutungen öffnen lassen. Man darf als Leser hier Phantasie haben.

Dieser Band trägt die Nummer 14 der Reihe „Perlen der Literatur“ aus dem Input-Verlag und zeichnet sich, wie die anderen Bände auch, durch sein bibliophiles Erscheinungsbild aus. Dadurch wird das Lesevergnügen noch einmal gesteigert. Mehr über die außergewöhnliche Reihe finden Sie in diesem Artikel:

Arthur Schnitzler: Sterben
Perlen der Literatur, Band 14
Input-Verlag, Hamburg 2022

Hinter den Bergen wechseln die Farben

Der gut hundert Seiten umfassende Gedichtband beginnt mit „Wach auf“ und endet mit der Sonne. Dieses „Wach auf“ mag Erzählung und Aufforderung zugleich sein, und zwischen diesem Aufwachen und der Sonne kann eine Nacht, ein Jahr oder ein ganzes Leben liegen. Gino Leinewebers Gedichte kommen wie aus einem Atemzug geboren daher, wie ein Bewusstseinsstrom, kontinuierlich und mit einem gewissen Tempo, aber nicht atemlos, eher als meditative Reise durch die Innenwelt. Faszinierend dabei ist, dass es nicht bei dem Einblick in die Innenwelt des Dichters bleibt, sondern dort beginnt und in die Innenwelt der Leserin führt. Aufwachen also, und dann die Reise durch Verse, Gedichte, Seiten beginnen. Sehr weniges wird benannt und auserzählt, sehr vieles angedeutet, und darin liegt auch das Geheimnis dieser lyrischen Rezeptur: „ (…) Sie tut dann so als ob … // Doch ich weiß / Sie hat mich im Blick / Lässt mich nie / Aus den Augen (…)“ (S. 10) Diese Andeutungen, mit denen der Dichter Empfindungen beschreibt, die man selbst womöglich gar nicht in Worte kleiden könnte oder die zu benennen einem nicht eingefallen wäre, treffen direkt ins Schwarze. Was ist Realität? Wie frei ist der viel beschworene Freie Wille? Es geht ums Erkennen, Versäumen, um Mut und vor allem um die Vergänglichkeit. Um die Kraft von Gedanken, nicht zuletzt darum, frei zu werden, wüsste man, was das bedeutet. Gehen wir mit mehr Erkenntnissen von dieser Welt, als wir gekommen sind? Sehen wir die reale Welt oder bauen wir uns eine Welt aus dem, was wir sehen?

Alle Gedichte sind miteinander verbunden, ohne dass auf den ersten Blick offensichtliche Bezüge bestehen. Es empfiehlt sich, das Buch direkt hintereinander zweimal zu lesen, damit sich diese ganz offenbaren. Wie weit beispielsweise Erlebnisse der Kindheit in den Rest des Lebens hineinwirken, lässt sich in diesem Lyrikband finden. Ob wirklich jemand unter der Treppe sitzt oder ob einer gleich mal da hochkommt – viele kennen solche „Erziehungsmaßnahmen“, und in der Beschäftigung mit diese Gedichten sind für mich viele vage Momente, Erlebnisse und Prägungen aus meinem Leben klar und greifbar geworden.

Dabei bleibt Gino Leineweber nicht im Detail, sondern schaut immer auf das große Ganze, wirft einen philosophischen Blick auf das Leben. Trotz der auch schweren Themen schafft er es, mit Humor die manchmal komplizierten und leicht abgehobenen Gedankengänge zu erden: „(…) Kann es sein / Dass ich mich nur denke? // Könnte sein!“ (S. 94).

Einiges habe ich nach der Lektüre aus einer anderen Perspektive betrachtet, zum Beispiel Traurigkeit:

Traurig zu sein
Wird unterschätzt
Es heißt nicht
Wie beim Glück
Hinterherlaufen und einfangen

Traurig zu sein
Kommt von allein
Meist unverhofft
Man bleibt für sich
Keiner will etwas abhaben

Traurig zu sein
Heißt die Kontrolle zu verlieren
Man fühlt für sich allein
Kann sich hingeben
Sieht sich selbst

(S. 98)

Die Gedichte dieses Bandes sind in nur einer Woche entstanden, wie der Klappentext verrät. Es ist also tatsächlich eine Art Bewusstseinsstrom in Lyrik, und man kann sich diesem Strom hingeben, alle Gedichte hintereinander weglesen und wieder von vorn anfangen, als wandelte man Seite an Seite mit dem Dichter durch die Landschaft oder säße mit ihm in einem Zug auf einer weiten Reise. Das habe ich getan, aber danach konnte ich mich auch nicht recht von dem Buch trennen. Nun schlage ich es willkürlich auf und lese ein Gedicht, manchmal auch zwei oder drei. Manchmal lache ich, manchmal bin ich nachdenklich oder den Tränen nah. In jedem Fall gehört dieser Band in meine private Kategorie „Ein Buch wie ein Freund“, und so kann ich ihn all jenen empfehlen, die gern über den eigenen Tellerrand schauen. Vielleicht bis zu den Bergen, hinter denen die Farben wechseln. (S. 9)

Gino Leinweber: Eine Weile Schon (Gedichte), 104 S., Verlag Expeditionen, Hamburg 2020

Vom Lesen und Reden

Rar sind solche Abende geworden, seit Corona den Fluss der Veranstaltungen unterbrochen hat. Danke an alle Gäste für die Aufmerksamkeit, die Fragen und Beiträge. Was haben wir im Gespräch und zwischen uns bewegt! Sind mir Engel begegnet? Vermischen sich in André Schinkels Texten Schriftstellerei und Archäologie? Wird bald Künstliche Intelligenz Bücher schreiben? Wer weiß das schon …

Wir haben uns riesig gefreut und hoffen auf Fortsetzung.

André Schinkel und ich, Foto: Sibylle Hoffmann