Bei der Offenen Lesebühne Hamburg-West wird es am 19. Januar 23 ein besonderes Zusammentreffen geben: Die Autorin des Abends, Sulamith Sommerfeld aus Stade, wird ihre wunderbaren Gedichte vorlesen. Diese Gelegenheit habe ich beim Schopfe gepackt, um die Stade-Fraktion zu verstärken. Mein Autorenfreund Thomas Dunse aus Stade liest ebenfalls und ich als Halb-Staderin werde die dritte im Bunde sein.
Thomas und ich kennen uns seit fast 30 Jahren, hatten in Stade früher einen gemeinsamen Literaturkreis und haben schon Lesungen zusammen gemacht. Um Sulamith kennenzulernen, mussten sie und ich allerdings erst nach Weßling bei München reisen, wo wir zusammen an einem Literaturseminar bei Anton G. Leitner teilnahmen. Das ist ungefähr 20 Jahre her. Seitdem begegneten wir uns hin und wieder, einige unserer Gedichten fanden in dieselben Literaturzeitschriften. Im letzten Jahr schrieb sie mir, worüber ich mich sehr freute, wir trafen uns und sind jetzt im enger werdenden Gespräch und Kontakt.
„Die Maschine“, Thomas Dunse
Sulamiths und meine Gedichte haben thematische Überschneidungen, auch wenn wir sehr unterschiedlich schreiben. Thomas ist ein Realpoet und bildet einen Kontrast, auch wenn er wie Sulamith und ich Themen des Zeitgeschehens und des Daseins in Prosa und Lyrik verhandelt.
Dies ist also eine Gelegenheit, meine Stader und meine Hamburger Gemeinschaft Schreibender auch zum Austausch zusammenzubringen und für die Gäste ebenfalls ein feiner Anlass, mal wieder Gedichte zu hören. Ich werde aus den Engel-Gedichten lesen.
Der gut hundert Seiten umfassende Gedichtband beginnt mit „Wach auf“ und endet mit der Sonne. Dieses „Wach auf“ mag Erzählung und Aufforderung zugleich sein, und zwischen diesem Aufwachen und der Sonne kann eine Nacht, ein Jahr oder ein ganzes Leben liegen. Gino Leinewebers Gedichte kommen wie aus einem Atemzug geboren daher, wie ein Bewusstseinsstrom, kontinuierlich und mit einem gewissen Tempo, aber nicht atemlos, eher als meditative Reise durch die Innenwelt. Faszinierend dabei ist, dass es nicht bei dem Einblick in die Innenwelt des Dichters bleibt, sondern dort beginnt und in die Innenwelt der Leserin führt. Aufwachen also, und dann die Reise durch Verse, Gedichte, Seiten beginnen. Sehr weniges wird benannt und auserzählt, sehr vieles angedeutet, und darin liegt auch das Geheimnis dieser lyrischen Rezeptur: „ (…) Sie tut dann so als ob … // Doch ich weiß / Sie hat mich im Blick / Lässt mich nie / Aus den Augen (…)“ (S. 10) Diese Andeutungen, mit denen der Dichter Empfindungen beschreibt, die man selbst womöglich gar nicht in Worte kleiden könnte oder die zu benennen einem nicht eingefallen wäre, treffen direkt ins Schwarze. Was ist Realität? Wie frei ist der viel beschworene Freie Wille? Es geht ums Erkennen, Versäumen, um Mut und vor allem um die Vergänglichkeit. Um die Kraft von Gedanken, nicht zuletzt darum, frei zu werden, wüsste man, was das bedeutet. Gehen wir mit mehr Erkenntnissen von dieser Welt, als wir gekommen sind? Sehen wir die reale Welt oder bauen wir uns eine Welt aus dem, was wir sehen?
Alle Gedichte sind miteinander verbunden, ohne dass auf den ersten Blick offensichtliche Bezüge bestehen. Es empfiehlt sich, das Buch direkt hintereinander zweimal zu lesen, damit sich diese ganz offenbaren. Wie weit beispielsweise Erlebnisse der Kindheit in den Rest des Lebens hineinwirken, lässt sich in diesem Lyrikband finden. Ob wirklich jemand unter der Treppe sitzt oder ob einer gleich mal da hochkommt – viele kennen solche „Erziehungsmaßnahmen“, und in der Beschäftigung mit diese Gedichten sind für mich viele vage Momente, Erlebnisse und Prägungen aus meinem Leben klar und greifbar geworden.
Dabei bleibt Gino Leineweber nicht im Detail, sondern schaut immer auf das große Ganze, wirft einen philosophischen Blick auf das Leben. Trotz der auch schweren Themen schafft er es, mit Humor die manchmal komplizierten und leicht abgehobenen Gedankengänge zu erden: „(…) Kann es sein / Dass ich mich nur denke? // Könnte sein!“ (S. 94).
Einiges habe ich nach der Lektüre aus einer anderen Perspektive betrachtet, zum Beispiel Traurigkeit:
Traurig zu sein Wird unterschätzt Es heißt nicht Wie beim Glück Hinterherlaufen und einfangen
Traurig zu sein Kommt von allein Meist unverhofft Man bleibt für sich Keiner will etwas abhaben
Traurig zu sein Heißt die Kontrolle zu verlieren Man fühlt für sich allein Kann sich hingeben Sieht sich selbst
(S. 98)
Die Gedichte dieses Bandes sind in nur einer Woche entstanden, wie der Klappentext verrät. Es ist also tatsächlich eine Art Bewusstseinsstrom in Lyrik, und man kann sich diesem Strom hingeben, alle Gedichte hintereinander weglesen und wieder von vorn anfangen, als wandelte man Seite an Seite mit dem Dichter durch die Landschaft oder säße mit ihm in einem Zug auf einer weiten Reise. Das habe ich getan, aber danach konnte ich mich auch nicht recht von dem Buch trennen. Nun schlage ich es willkürlich auf und lese ein Gedicht, manchmal auch zwei oder drei. Manchmal lache ich, manchmal bin ich nachdenklich oder den Tränen nah. In jedem Fall gehört dieser Band in meine private Kategorie „Ein Buch wie ein Freund“, und so kann ich ihn all jenen empfehlen, die gern über den eigenen Tellerrand schauen. Vielleicht bis zu den Bergen, hinter denen die Farben wechseln. (S. 9)
Gino Leinweber: Eine Weile Schon (Gedichte), 104 S., Verlag Expeditionen, Hamburg 2020
Multimedia-Lesung mit Galerie und Musikfilmen online
Zahlreiche Ratgeber versprechen Heilung von chronischen Schmerzen bei bestimmten Verhaltensweisen. Aber was, wenn die Schmerzen trotzdem nicht mehr weggehen? Positiv und optimistisch zu bleiben und das eigene Leben bestmöglich zu gestalten, sind die Ziele der SchriftstellerinMaren Schönfeld, die aufgrund zweier Gendefekte seit ihrem achten Lebensjahr mit chronischen Schmerzen lebt. Wer ein solches Problem hat, weiß: Die Schmerzen sind immer dabei, vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Der Schmerz als ständiger Begleiter begrenzt und erschwert das Leben. Maren Schönfeld stellt ihr Buch vor, berichtet aus ihren Erfahrungen mit dem Krankheitsmanagement, gibt praktische Tipps und beantwortet Fragen. Das Buch ist eine Mischung aus Ratgeber und Bericht, ergänzt von einigen Gedichten (auch aus der Neuauflage „Der Boden des Dunkels“), da die Autorin auch Dichterin ist. Sie zeigt in der multimedialen Lesung einige ihrer Zeichnungen, die entstanden sind, wenn ihr die Worte ausgingen, sowie Fotos von erbaulichen Orten in Hamburg und im Hamburger Umland, an denen sie Kraft schöpft. Klangcollagen aus instrumentaler Klaviermusik, gespielt und improvisiert von der Pianistin Ulrike Gaate (https://www.ulrikegaate.com/), runden das Programm ab. Sabine Witt, Literaturwissenschaftlerin und Vorsitzende der Hamburger Autorenvereinigung, stimmt in einer kurzen Einführung auf das Thema ein.
Maren Schönfeld: Wenn du Schmerzen hast, gehe langsam; Verlag Expeditionen, Hamburg 2018 Der Boden des Dunkels, Verlag Expeditionen, Hamburg 2021 (Neuauflage)
Dienstag, 22. Februar, 18:30 Uhr, online
Diese Online-Lesung findet mit ZOOM Meeting statt (www.zoom.us) und muss direkt bei der Hamburger Volkshochschule gebucht werden: Hamburger Volkshochschule
Die Schweizer Lyrikerin Ruth Loosli hat mit „Mojas Stimmen“ ihren ersten Roman vorgelegt, der mit ausgefeilter Erzählkunst, dichter Atmosphäre und geschliffener Sprache beeindruckt.
Ruth Loosli (Foto: Anne Bürgisser)
Hauptpersonen der Erzählung sind Paula und ihre fünfundzwanzigjährige Tochter Moja, die durch eine psychische Erkrankung buchstäblich aus dem geregelten Leben mit eigener Wohnung und Arbeitsplatz fällt. Vor Paulas Augen verschwindet Moja in eine für die Mutter unerreichbare und unverständliche Welt, in der Moja Stimmen hört, die ihr diktieren, was sie tun soll. Unermüdlich sucht Paula Wege zu ihrem Kind und muss sich doch abgrenzen, ist zwischen Wut und Verzweiflung hin- und hergerissen, will alles regeln und ordnen und muss erleben, dass sich diese Situation nicht ordnen lässt.
Das Thema ist in einer Zeit, in der viele junge Menschen Depressionen und andere psychische Krankheiten entwickeln, hochaktuell. Das Phänomen, dass vor allem junge Männer keinen Drang mehr verspüren, das elterliche Zuhause zu verlassen und selbstständig zu werden, lässt die betroffene Elterngeneration vielfach ratlos zurück. Eine Studie aus dem Jahr 2019 ergab, dass junge Erwachsene ihr Elternhaus im Schnitt mit 23,7 Jahren verlassen, was im europäischen Vergleich noch früh ist. In Kroatien verlassen die Kinder dagegen erst mit fast 32 Jahren ihr Elternhaus.[i]
Auch Paula überlegt, ihre erkrankte Tochter wieder zu sich zu nehmen, aber sie erkennt, dass das nicht möglich ist, dass sie sich dann nicht mehr würde schützen können. Ohnehin fühlt sie sich der Situation hilflos ausgeliefert, und ihre zupackende, organisierende Art hilft ihr in diesem Fall nicht – eher im Gegenteil. Sofort ist Moja verprellt und „macht dicht“, sobald ihre Mutter tatkräftig die Probleme angehen will, mit ungeöffneter Post kommt und fragt, wann Rechnungen bezahlt werden. Es ist ein ständiger Balanceakt aus dem Versuch, Nähe herzustellen, und dem immer wieder geschehenden Bruch, wenn Moja plötzlich fortgeht. Beim Lesen bangt man schon vor jedem Treffen, dass es wieder passiert.
„Der Boden des Dunkels“ ist in überarbeiteter und erweiterter Neuauflage im Verlag Expeditionen, Hamburg, erschienen. Passend dazu habe ich eine Box mit schönen und leckeren Kleinigkeiten zusammengestellt.
Neben dem Buch gibt es ein handgezeichnetes Lesezeichen, drei Postkarten, ein Teelicht im Glas, eine Trinkschokolade zum Aufgießen, eine Portion Tee und einen Schokotaler. 🙂
Das Buch kostet solo € 12,50, die Box inklusive Buch € 22,50 (zzgl. Versand). Bestellen können Sie mit dem Kontaktformular.