Hinter den Bergen wechseln die Farben

Der gut hundert Seiten umfassende Gedichtband beginnt mit „Wach auf“ und endet mit der Sonne. Dieses „Wach auf“ mag Erzählung und Aufforderung zugleich sein, und zwischen diesem Aufwachen und der Sonne kann eine Nacht, ein Jahr oder ein ganzes Leben liegen. Gino Leinewebers Gedichte kommen wie aus einem Atemzug geboren daher, wie ein Bewusstseinsstrom, kontinuierlich und mit einem gewissen Tempo, aber nicht atemlos, eher als meditative Reise durch die Innenwelt. Faszinierend dabei ist, dass es nicht bei dem Einblick in die Innenwelt des Dichters bleibt, sondern dort beginnt und in die Innenwelt der Leserin führt. Aufwachen also, und dann die Reise durch Verse, Gedichte, Seiten beginnen. Sehr weniges wird benannt und auserzählt, sehr vieles angedeutet, und darin liegt auch das Geheimnis dieser lyrischen Rezeptur: „ (…) Sie tut dann so als ob … // Doch ich weiß / Sie hat mich im Blick / Lässt mich nie / Aus den Augen (…)“ (S. 10) Diese Andeutungen, mit denen der Dichter Empfindungen beschreibt, die man selbst womöglich gar nicht in Worte kleiden könnte oder die zu benennen einem nicht eingefallen wäre, treffen direkt ins Schwarze. Was ist Realität? Wie frei ist der viel beschworene Freie Wille? Es geht ums Erkennen, Versäumen, um Mut und vor allem um die Vergänglichkeit. Um die Kraft von Gedanken, nicht zuletzt darum, frei zu werden, wüsste man, was das bedeutet. Gehen wir mit mehr Erkenntnissen von dieser Welt, als wir gekommen sind? Sehen wir die reale Welt oder bauen wir uns eine Welt aus dem, was wir sehen?

Alle Gedichte sind miteinander verbunden, ohne dass auf den ersten Blick offensichtliche Bezüge bestehen. Es empfiehlt sich, das Buch direkt hintereinander zweimal zu lesen, damit sich diese ganz offenbaren. Wie weit beispielsweise Erlebnisse der Kindheit in den Rest des Lebens hineinwirken, lässt sich in diesem Lyrikband finden. Ob wirklich jemand unter der Treppe sitzt oder ob einer gleich mal da hochkommt – viele kennen solche „Erziehungsmaßnahmen“, und in der Beschäftigung mit diese Gedichten sind für mich viele vage Momente, Erlebnisse und Prägungen aus meinem Leben klar und greifbar geworden.

Dabei bleibt Gino Leineweber nicht im Detail, sondern schaut immer auf das große Ganze, wirft einen philosophischen Blick auf das Leben. Trotz der auch schweren Themen schafft er es, mit Humor die manchmal komplizierten und leicht abgehobenen Gedankengänge zu erden: „(…) Kann es sein / Dass ich mich nur denke? // Könnte sein!“ (S. 94).

Einiges habe ich nach der Lektüre aus einer anderen Perspektive betrachtet, zum Beispiel Traurigkeit:

Traurig zu sein
Wird unterschätzt
Es heißt nicht
Wie beim Glück
Hinterherlaufen und einfangen

Traurig zu sein
Kommt von allein
Meist unverhofft
Man bleibt für sich
Keiner will etwas abhaben

Traurig zu sein
Heißt die Kontrolle zu verlieren
Man fühlt für sich allein
Kann sich hingeben
Sieht sich selbst

(S. 98)

Die Gedichte dieses Bandes sind in nur einer Woche entstanden, wie der Klappentext verrät. Es ist also tatsächlich eine Art Bewusstseinsstrom in Lyrik, und man kann sich diesem Strom hingeben, alle Gedichte hintereinander weglesen und wieder von vorn anfangen, als wandelte man Seite an Seite mit dem Dichter durch die Landschaft oder säße mit ihm in einem Zug auf einer weiten Reise. Das habe ich getan, aber danach konnte ich mich auch nicht recht von dem Buch trennen. Nun schlage ich es willkürlich auf und lese ein Gedicht, manchmal auch zwei oder drei. Manchmal lache ich, manchmal bin ich nachdenklich oder den Tränen nah. In jedem Fall gehört dieser Band in meine private Kategorie „Ein Buch wie ein Freund“, und so kann ich ihn all jenen empfehlen, die gern über den eigenen Tellerrand schauen. Vielleicht bis zu den Bergen, hinter denen die Farben wechseln. (S. 9)

Gino Leinweber: Eine Weile Schon (Gedichte), 104 S., Verlag Expeditionen, Hamburg 2020

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s