Archiv der Kategorie: Artikel und Rezensionen

Buchrezensionen und Artikel von Maren Schönfeld

Hinter den Bergen wechseln die Farben

Der gut hundert Seiten umfassende Gedichtband beginnt mit „Wach auf“ und endet mit der Sonne. Dieses „Wach auf“ mag Erzählung und Aufforderung zugleich sein, und zwischen diesem Aufwachen und der Sonne kann eine Nacht, ein Jahr oder ein ganzes Leben liegen. Gino Leinewebers Gedichte kommen wie aus einem Atemzug geboren daher, wie ein Bewusstseinsstrom, kontinuierlich und mit einem gewissen Tempo, aber nicht atemlos, eher als meditative Reise durch die Innenwelt. Faszinierend dabei ist, dass es nicht bei dem Einblick in die Innenwelt des Dichters bleibt, sondern dort beginnt und in die Innenwelt der Leserin führt. Aufwachen also, und dann die Reise durch Verse, Gedichte, Seiten beginnen. Sehr weniges wird benannt und auserzählt, sehr vieles angedeutet, und darin liegt auch das Geheimnis dieser lyrischen Rezeptur: „ (…) Sie tut dann so als ob … // Doch ich weiß / Sie hat mich im Blick / Lässt mich nie / Aus den Augen (…)“ (S. 10) Diese Andeutungen, mit denen der Dichter Empfindungen beschreibt, die man selbst womöglich gar nicht in Worte kleiden könnte oder die zu benennen einem nicht eingefallen wäre, treffen direkt ins Schwarze. Was ist Realität? Wie frei ist der viel beschworene Freie Wille? Es geht ums Erkennen, Versäumen, um Mut und vor allem um die Vergänglichkeit. Um die Kraft von Gedanken, nicht zuletzt darum, frei zu werden, wüsste man, was das bedeutet. Gehen wir mit mehr Erkenntnissen von dieser Welt, als wir gekommen sind? Sehen wir die reale Welt oder bauen wir uns eine Welt aus dem, was wir sehen?

Alle Gedichte sind miteinander verbunden, ohne dass auf den ersten Blick offensichtliche Bezüge bestehen. Es empfiehlt sich, das Buch direkt hintereinander zweimal zu lesen, damit sich diese ganz offenbaren. Wie weit beispielsweise Erlebnisse der Kindheit in den Rest des Lebens hineinwirken, lässt sich in diesem Lyrikband finden. Ob wirklich jemand unter der Treppe sitzt oder ob einer gleich mal da hochkommt – viele kennen solche „Erziehungsmaßnahmen“, und in der Beschäftigung mit diese Gedichten sind für mich viele vage Momente, Erlebnisse und Prägungen aus meinem Leben klar und greifbar geworden.

Dabei bleibt Gino Leineweber nicht im Detail, sondern schaut immer auf das große Ganze, wirft einen philosophischen Blick auf das Leben. Trotz der auch schweren Themen schafft er es, mit Humor die manchmal komplizierten und leicht abgehobenen Gedankengänge zu erden: „(…) Kann es sein / Dass ich mich nur denke? // Könnte sein!“ (S. 94).

Einiges habe ich nach der Lektüre aus einer anderen Perspektive betrachtet, zum Beispiel Traurigkeit:

Traurig zu sein
Wird unterschätzt
Es heißt nicht
Wie beim Glück
Hinterherlaufen und einfangen

Traurig zu sein
Kommt von allein
Meist unverhofft
Man bleibt für sich
Keiner will etwas abhaben

Traurig zu sein
Heißt die Kontrolle zu verlieren
Man fühlt für sich allein
Kann sich hingeben
Sieht sich selbst

(S. 98)

Die Gedichte dieses Bandes sind in nur einer Woche entstanden, wie der Klappentext verrät. Es ist also tatsächlich eine Art Bewusstseinsstrom in Lyrik, und man kann sich diesem Strom hingeben, alle Gedichte hintereinander weglesen und wieder von vorn anfangen, als wandelte man Seite an Seite mit dem Dichter durch die Landschaft oder säße mit ihm in einem Zug auf einer weiten Reise. Das habe ich getan, aber danach konnte ich mich auch nicht recht von dem Buch trennen. Nun schlage ich es willkürlich auf und lese ein Gedicht, manchmal auch zwei oder drei. Manchmal lache ich, manchmal bin ich nachdenklich oder den Tränen nah. In jedem Fall gehört dieser Band in meine private Kategorie „Ein Buch wie ein Freund“, und so kann ich ihn all jenen empfehlen, die gern über den eigenen Tellerrand schauen. Vielleicht bis zu den Bergen, hinter denen die Farben wechseln. (S. 9)

Gino Leinweber: Eine Weile Schon (Gedichte), 104 S., Verlag Expeditionen, Hamburg 2020

Verheddert in der Weltwahrnehmung*

Die Schweizer Lyrikerin Ruth Loosli hat mit „Mojas Stimmen“ ihren ersten Roman vorgelegt, der mit ausgefeilter Erzählkunst, dichter Atmosphäre und geschliffener Sprache beeindruckt.

Ruth Loosli
(Foto: Anne Bürgisser)

Hauptpersonen der Erzählung sind Paula und ihre fünfundzwanzigjährige Tochter Moja, die durch eine psychische Erkrankung buchstäblich aus dem geregelten Leben mit eigener Wohnung und Arbeitsplatz fällt. Vor Paulas Augen verschwindet Moja in eine für die Mutter unerreichbare und unverständliche Welt, in der Moja Stimmen hört, die ihr diktieren, was sie tun soll. Unermüdlich sucht Paula Wege zu ihrem Kind und muss sich doch abgrenzen, ist zwischen Wut und Verzweiflung hin- und hergerissen, will alles regeln und ordnen und muss erleben, dass sich diese Situation nicht ordnen lässt.

Das Thema ist in einer Zeit, in der viele junge Menschen Depressionen und andere psychische Krankheiten entwickeln, hochaktuell. Das Phänomen, dass vor allem junge Männer keinen Drang mehr verspüren, das elterliche Zuhause zu verlassen und selbstständig zu werden, lässt die betroffene Elterngeneration vielfach ratlos zurück. Eine Studie aus dem Jahr 2019 ergab, dass junge Erwachsene ihr Elternhaus im Schnitt mit 23,7 Jahren verlassen, was im europäischen Vergleich noch früh ist. In Kroatien verlassen die Kinder dagegen erst mit fast 32 Jahren ihr Elternhaus.[i]

Auch Paula überlegt, ihre erkrankte Tochter wieder zu sich zu nehmen, aber sie erkennt, dass das nicht möglich ist, dass sie sich dann nicht mehr würde schützen können. Ohnehin fühlt sie sich der Situation hilflos ausgeliefert, und ihre zupackende, organisierende Art hilft ihr in diesem Fall nicht – eher im Gegenteil. Sofort ist Moja verprellt und „macht dicht“, sobald ihre Mutter tatkräftig die Probleme angehen will, mit ungeöffneter Post kommt und fragt, wann Rechnungen bezahlt werden. Es ist ein ständiger Balanceakt aus dem Versuch, Nähe herzustellen, und dem immer wieder geschehenden Bruch, wenn Moja plötzlich fortgeht. Beim Lesen bangt man schon vor jedem Treffen, dass es wieder passiert.

Das beste Buch für guten Stil

(c) Veronika Gruhl/Knesebeck Verlag

Wie viele Kleidungsstücke hängen aus alter Tradition in Ihrem Kleiderschrank? Gehören Sie auch zu den Leuten, die zwanzig Prozent ihrer Kleidung regelmäßig tragen, während der Rest so gut wie nie ans Tageslicht kommt? Die Verfasserin dieser Zeilen pflegt zweimal jährlich – nämlich zum Saisonwechsel – sinnierend vor ihrem Klamottenuniversum zu stehen und darüber nachzudenken, welche Teile aus dem Fach ganz oben nach unten in Greifnähe wandern und umgekehrt. Und vor allem, welche rausfliegen. Denn die Umsortierung nach Saison bietet sich dafür an. Allerdings sind die Gründe, warum ein Kleidungsstück mich verlassen oder eben nicht verlassen soll, höchst subjektiv. Nach einer Greenpeace-Studie kaufen wir rein statistisch gesehen jedes Jahr 60 Kleidungsstücke. Was passiert mit den anderen 600 aus den letzten zehn Jahren? Tatsächlich ist Fast Fashion für die Umwelt, aber auch für Menschen, die die Mode produzieren, ein großes Problem. Ob wir nun 60 oder 30 oder 100 Kleidungsstücke pro Jahr kaufen, es stellt sich die Frage: Braucht man das? Was braucht man wirklich, um gut angezogen zu sein? Habe ich mich früher gern experimentierend in verschiedene Fummel gewandet, hat sich im Lauf der Zeit meine Vorliebe eher hin zu schlichteren, kombinierbaren Stücken entwickelt. Was machen dann die alten Wallawallakleider im Schrank? Ziehe ich die noch mal an? (Weiter auf S. 2!)

Über meine Buchvorstellung

Ich freue mich sehr, dass die Journalistin Uta Buhr über meine Buchvorstellung sowie mein Buch berichtet hat:

„Wenn du Schmerzen hast, gehe langsam“ – Maren Schönfeld las aus ihrem neuesten Buch

Mir hat der Abend sehr viel Freude bereitet, weil es einen regen Austausch mit den Gästen gab. So soll es sein. Die Situation war schon dadurch aufgelockert, dass wir alle an einer langen Tafel saßen und nicht, wie bei Lyriklesungen, ich separat vor dem Publikum platziert war. So war die Atmosphäre von vornherein aufgelockert.

Herr Fiek und die Wutwurzel

Zum Lyrikband „Global ins Affental“ von Rüdiger Stüwe

Mit einem gewissen Herrn Fiek, dessen Namen auf Ansage der Mutter in die Länge zu ziehen war – die Kinder gehorchten in diesem Fall aufs Wort – (Aufs Wort, S. 11) beginnt der Gedichtband des Lyrikers Rüdiger Stüwe aus Schleswig-Holstein. Und daran, dass die Kinder in diesem Fall gehorchten, ist sogleich zu erkennen, dass sie ansonsten eher aufmüpfig waren. Die Aufmüpfigkeit hat der Schriftsteller sich bewahrt und in seine meist kurzen, immer prägnanten Verse verstrickt. Mit wachem Verstand, scharfem Blick und einer Portion Ironie – die manchmal ins Tragische geht – betrachtet Rüdiger Stüwe sein Umfeld mit den weniger oder mehr bekannten Zeitgenossen.  Er widmet sich dem (eigenen) Älterwerden oder, nennen wir es ruhig beim Namen, dem Verfall mit tragikomischer Note: „Noch immer / sehe ich mich / hoch zu Ross / Windmühlenflügel // bekämpfend doch / meine Figur / ähnelt schon lange / Sancho Pansa.“ (Gravierende Veränderung, S. 18).

Fünf Kapitel umfasst der Gedichtband, dessen Bandbreite von freien Gedichten über Lautgedichte im Stile Jandls bis zu Kinderversen – nicht nur für Kinder – reicht. Er versammelt Aphorismen, Haiku und Limericks. Diese Formen verbindet Rüdiger Stüwe auch mit Themen des aktuellen Zeitgeschehens und bezieht Position zu von ihm empfundenen Missständen regional und global. Das stumme Paar, das jeweils zum eigenen Smartphone redselig wird und damit das Kaffeegartenpublikum erfreut (Moderne Kommunikation, S. 70); das Trumpeltier, von es dem unverblümt heißt: „ (…) Mit alternativen Fakten / bringst du den all so Beknackten / sicher nicht zu Fall. (…)“(Trumpeltier, S. 72) bis hin zum Nachbarn, der mit seinem im Wind schellenden Klangspiel die Nachbarschaft in den Wahnsinn treibt (Gegenlärm, S. 68) – Rüdiger Stüwe nimmt all das wahr und lenkt die Leseraufmerksamkeit auf diese kleinen oder auch größeren Momente und Situationen, mit denen wir alle zu tun haben und die uns angehen, ob wir wollen oder nicht.

Ich würde ihn als Realpoet bezeichnen: Rüdiger Stüwe sagt, was ist, er nimmt kein Blatt vor den Mund, er verzichtet auf Schnörkel und Brimborium, seine Sprache ist eingängig und eloquent. Oftmals habe ich gegrinst, manchmal blieb mir das Grinsen auch weg. Und wann dem Lyriker die Wutwurzel schnurzel ist, das möge der geneigte Leser selbst herausfinden (Wutwurzel schnurzel, S. 84).

 

Global ins Affental, Donat Verlag, Bremen 2018

Biografie: Geboren in der Kalten Heimat, vor den Russen geflohen mit Mutter und Bruder; verschlagen ins idyllische Heidedörfchen Schneverdingen, wo die Häuser noch nummeriert waren und die Leute sehr fromm, jedenfalls war die Kirche immer voll; das färbte nicht sehr ab, nach krummer Schullaufbahn und anschließender Flucht ins Schülerheim (in Hermannsburg) Industriekaufmann gelernt (Hanomag Hannover); eigentliche Lehre auf dem Fußballplatz und im Jugendwohnheim der Arbeiterwohlfahrt Hannover; nach der Desertation als kaufmännischer Angestellter ins Lehrfach (Deutsch und Geschichte) ging es mit der Firma bergab, zur Zeit ist sie in japanischer Hand (Kommatsu); Lehrerlaufbahn, die letzten 18 Jahre an einer Gesamtschule, überzeugter Anhänger einer gemeinsamen Schule für alle Schüler bis zum 10. Schuljahr; heute als Schriftsteller lebend in Ellerbek, Mitglied im deutschen Schriftstellerverband (VS), im Literaturzentrum e.V. Hamburg, in der Hamburger Autorenvereinigung und im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt.

Homepage: http://ruediger-stuewe.de

 

Ein Buch mit vielen Zimmern

Zum Lyrikband „Bodenkunde“ von André Schinkel

Es gibt Bücher, die ich nicht mehr aus der Hand legen möchte. Denn sie zu lesen ist, als öffneten sich neue Räume, die entdeckt, betrachtet und bewohnt werden wollen; die lebendig werden durch den neuen Bewohner, der sich in ihnen bewegt. So ein Buch ist „Bodenkunde“ des Lyrikers André Schinkel aus Halle. Seine Gedichte erschließen sich nicht schnell, sie fordern Beschäftigung, auch mehrfache, sie verlangen ihren Lesern etwas ab. Und wer sich darauf einlässt, dem öffnet sich der Sprach- und Bildkosmos des Schriftstellers Schinkel in einer Weise, die einen verändert. Ja, diese Gedichte können etwas verändern im eigenen Weltbild, sie lassen einen neuen, anderen Blick zu – beispielsweise auf Sepien, jene Tintenfische, die man womöglich überhaupt noch nie betrachtet haben mag. Im gleichnamigen Zyklus verwendet, bringt mich die Lektüre der Gedichte zunächst in die Recherche nach dem Meeresgetier, und auch wenn das nicht wichtig ist, zeigt es die sorgfältige Wahl der Metapher: In der Homöopathie wird die Substanz Sepia u. a., wenn der Kranke „eine gewisse emotionale Distanziertheit und Kühle“[1] zeigt, und auch bei Frauenleiden. Es ist nicht wichtig, um diesen starken Zyklus zu verstehen, aber es zu wissen, verleiht ihm noch mehr Tiefe als er ohnehin schon mitbringt. Heute noch Liebesgedichte schreiben, über unglückliche Lieben zumal – ein Wagnis, dünnes Eis. So vieles schon tausendfach gesagt, kaum eine Metapher, die nicht bereits irgendwo verwendet wurde. Aber bei André Schinkel ist alles neu, dicht, „rastlos und atemlos“[2], düster verzaubert durch das Sepienthema und dabei so anerlebbar, nachfühlbar, verstörend schön: „(…) Das ist es, was ich von dir behalte: das Leuchten der / Sepien-Sprossen im Rausch, im bebenden Quirlen solch / Endloser Schwärme in der Brackschicht des Wassers; (…)“[3]

Ein Buch mit vielen Zimmern weiterlesen

… außerhalb des Möglichen

Dieser Artikel ist bereits im Online-Magazin www.die-auswaertige-presse.de erschienen.

Zur Ausstellung von Andrea Cziesso im Bürgerhaus Niendorf

Adam und Eva

Kommt man in den Saal des Berenberg-Gossler-Hauses und wirft einen ersten Blick auf die großformatigen Bilder, ist er erste Gedanke: Klar, kenne ich – Turmbau zu Babel von Bruegel. Dann der zweite Blick: Nee, Moment, da stimmt doch was nicht! Der dritte: Oh, das ist ja raffiniert, wie hat sie das denn gemacht?! Der Turm ist eine Collage aus verschiedenen Hausfassaden.
Schon ist man mittendrin in Andrea Cziessos Welt, in diesem Fall in der Serie „Alte Meister-Nachbauten“. Dazu gehören z.B. der „Turmbau zu Babel“ von Pieter Bruegel, „Das Abendmahl“ von Leonardo da Vinci und „Das Frühstück im Grünen“ von Édourd Manet. Aber diese Bilder verschieben die Realität, sie haben verfremdete Inhalte und eine gewisse Vieldeutigkeit – sie sind in die heutige Zeit verlegt worden – mit einem Augenzwickern und mit einem gesellschaftskritischen Aspekt. So gibt es bei dem Werk „Adam und Eva“ nach Peter Paul Rubens keinen Apfel, sondern einen Coffee to go und einen Hamburger, und die Verführung findet nicht im Paradies, sondern auf einer Müllkippe statt. Antike Motive werden in die Gegenwart transportiert und erhalten so eine die Zeiten überspannende Wirkung.

Geisterhafte Wesen im verlassenen Haus

In der Serie Fotomontagen vom Olffschen Haus werden die Räume von tanzenden, schwebenden geisterhaften Wesen bevölkert. Dieses alte Haus ist seit 30 Jahren verlassen, wurde aber nie ausgeräumt. Es wirkt so, als wären die Bewohner nur mal kurz weggegangen. Andrea Cziesso hatte die Möglichkeit, zweimal im Haus zu fotografieren, und hat Lebendigkeit in die morbiden Stillleben gebracht. Ihre tanzenden und schwebenden Figuren und eine Explosion geben dem toten Ort Dynamik.

Kleine Kostbarkeiten aus vergangenen Zeiten bilden das Material für die Stillleben im Karton. Aus ihrem im Jahre 1900 erbauten Elternhaus, das vier Generationen ihrer Familie beherbergte, hat sie Gegenstände zusammengetragen und in Szene gesetzt. Zu den Stillleben hat Andrea Cziesso ein Buch mit dem Titel „Eine Hausgeschichte“ veröffentlicht.

Mystik und morbide Ästhetik

Engel

Obergeschoss des Berenberg-Gossler-Hauses finden sich zwei weitere Serien der Künstlerin. Ihre altmeisterlichen Halbportraits haben eine morbide Ästhetik. „In meiner Serie „status humanum“ möchte ich innere körperliche und seelische Zustände sichtbar machen, sozusagen das Innere nach außen kehren. Ganz plastisch können das Organe und Blutgefäße sein, aber auch die Verbildlichung geistiger Zustände wie sich kopflos fühlen, verwirrt oder besinnlich sein, oder ihre Wut herausschreiend“, erklärt Andrea Cziesso.
Die Serie Mixed Media ist eine Mischung aus Malerei und Fototechnik, die mystisch und märchenhaft anmutet. Es sind sehr poetische Arbeiten, Neuinszenierungen, die wiederum einen eigenen Kosmos darstellen.
Eindrucksvoll zeigen die im Haus sehr stimmig angeordneten Werke die große Bandbreite des Könnens der Künstlerin.

Von der Malerei zur digitalen Bildbearbeitung

Hanna Malzahn (li.) und Andrea Cziesso

Zur Vernissage am 11. Januar 19 stellte die Kuratorin des Berenberg-Gossler-Hauses, Hanna Malzahn, die Künstlerin vor und erläuterte einiges zu ihren Werken. Andrea Cziesso ist an der Elbe aufgewachsen und wohnt im schönsten Bauernhaus mit Fachwerk, Reetdach, mit Gemüsegarten und Hühnerstall. Ihre Mutter war Damenschneiderin, ihr Urgroßvater und ihre Großmutter waren Herrenschneider mit eigener Werkstatt. Das erkläre, so Hanna Malzahn, sicher die Affinität zu Kleidung, Verkleidung, Kostümen und zum Handwerk. Andrea Cziesso studierte Kostümdesign an der Fachhochschule für Gestaltung in Hamburg. Als Kostümbildnerin verbrachte sie viele Jahre an verschiedenen Theatern, u.a. zwei Jahre im Stadttheater Bamberg. Wieder im Norden, arbeitete Andrea Cziesso Anfang der 90ziger Jahre, immer noch beheimatet in der Malerei, in Druckereien und bekam so die Entwicklung der Computertechnik in der Druckvorstufe von Anfang an mit. Sie ist sozusagen von klein auf in die Digitalisierung hereingewachsen. Mit Photoshop 1.0 machte sie erste digitale Bildversuche und erkannte das Potenzial dieser Technik für die Umsetzung ihrer fantastischen, skurrilen und manchmal auch morbiden Bildideen. Ab 2003 wendete sie sich der Fotografie zu, nach anfänglichen Portraitaufnahmen entwickelte sie sehr schnell opulente Kostüminszenierungen, sie verkleidete Freunde und Verwandte undbaute sie in phantasievolle Kulissen und sonderbare Welten ein.
Visuelle Inspirationen fand und findet sie im Theater, durch Märchen, schräge Geschichten und bei den „Alten Meistern“.

Einfühlsame Musik zur Vernissage

Hanna Malzahn und Wolfgang CG Schönfeld

Auch der Komponist und Musiker Wolfgang CG Schönfeld verbindet und komponiert Altes und Neues miteinander, es finden Einflüsse klassischer wie moderner Strömungen auf der Grundlage spätklassischer und programmatischer Musik der Romantik zusammen. So passten seine instrumentalen Musikstücke zur Vernissage sehr gut zu den Bildern.

Die Ausstellung ist noch bis zum 22. Februar 19 zu sehen.

www.buergerhaus-niendorf.de
Berenberg-Gossler-Haus, Niendorfer Kirchenweg 17, 22459 Hamburg, Tel. 589 766 43
http://andreacziesso.de/

Wolfgang CG Schönfelds CD „Shadows“

 

Nachrichten aus einem literarischen Universum

zu Peter Gosses Essayband „Vom allmählichen Verfertigen von Welt im Dichten“

Das Problem mit Literatur über Literatur ist, dass man die in Bezug gesetzte, also diejenige, über die literarisch berichtet wird, möglichst gelesen haben sollte, um dem über Literatur Geschriebenen auch folgen zu können. Das ist meistens so, aber nicht immer. Manchmal ist die Literatur über Literatur so lehrreich, vergnüglich und inspirierend, dass sie fast – ein Frevel? – erbaulicher erscheint als diejenige, die sie zum Thema hat. Bestenfalls fühlt sich der Adressat dieses Essaybandes  motiviert, die Bezugstexte (erneut) zu lesen – oder er befindet den Genuss der Sekundärliteratur als in einem Maße erquicklich, dass er das – möglicherweise mühsame – Studieren der Quellen als entbehrlich erachtet.  Letztere gilt wohl in besonderem Maße für LiteraturstudentInnen,   die nach zusätzlichen Informationen zu ihren Vorlesungen suchen oder sich gezielt auf eine Prüfung vorbereiten wollen/müssen.

Peter Gosses zu seinem 75. Geburtstag erschienene Essays sind so ein Fall zwischen Lust haben und Lust bekommen, sind Lesegenuss, bei dem erfreulicherweise die ganz überwiegend zitierten Bezugstexte Grund und Anlass, aber nicht Träger der Gosseschen hochinteressanten Gedanken und Ausführungen sind. Schon die Auswahl lässt über ihre Bandbreite staunen und gibt Anlass zur Freude, streckt sie sich doch von klassischen  frühen Werken bis in die Gegenwart und hat keine falsche Scheu, die Werke Hölderins und Petrarcas neben das Laterne-Lied zu stellen. Spätestens beim letzteren stellen sich leserseits Vertraulichkeiten ein, und ja: Bei aller Sprachmannigfaltigkeit spricht das Buch auf Augenhöhe mit dem Leser. Gosse spaziert also von Walter von der Vogelweide bis zu Walt Whitman, von Georg Maurer zu Elke Erb und landet nicht zuletzt beim Hildebrand-Lied, das Ganze aufgeteilt in fünf Kapitel. Jeder Essay ist Verdeutlichung, Deutung und Standpunkt zugleich , ohne absoluten Wahrheits-Anspruch, vielmehr mit sacht gesetzten Fortwirkungsimpulsen, die den Leser zu eigenen Gedanken und Urteilen anregen. Die Länge der einzelnen Essays ufert nie aus und ist nicht zu kurz und die Sprache oszilliert in bei Peter Gosse gewohnter und wunderbarer Weise, sodass diese Texte das schon erwähnte nachhaltige Vergnügen bereiten; ob mehr als der Bezugstext, mag der Leser für sich entscheiden.

Auch die gewährten Einblicke in das Miteinander Peter Gosses mit Kollegen (so zitiert er eine Widmung Werner Bräunigs) machen den Essayband besonders informativ und interessant. Peter Gosse schafft es einmal mehr, dem weiten Raum der Sprache und Dichtung die Tür aufzustoßen und den Leser zum Eintreten zu bewegen, ihm die Relevanz der Literatur, ihre Gültigkeit und Wirkung auf den Zeitgeist nahe zu bringen. Gosses Leidenschaft greift auf den Leser über, und man darf sich im Gosse-Kosmos sicher sein, auch beim wiederholten Lesen noch neue Aspekte, Wendungen und Nuancen zu entdecken, die einem vorher noch nie in den Sinn gekommen waren. Dies mit der dem Autor eigenen Ernsthaftigkeit, die stets seine humorvolle Nuance einschließt, weshalb das Tragende nie ins Tragische abfällt. Das Buch ist auch eine Art Wanderung durch die Weltgeschichte, eine Art Essenz eines großen Ganzen. Was also kann Dichtung nun sein? „Empfindungskorrelat des eigentümlich geschauten und durchschauten Weltganzen und insofern dieses Weltganzen Krönung. Indem Dichtung sowohl das Koma als auch dessen buchstäblich Gegenläufiges, Amok, hinter sich lässt oder balancierend gegeneinander treibt in die gelassene Schwebe, wächst sie ruhig aus dem Kern statt aufgeregt aus Randlagen.“ (S. 20)

Die Laudatio Wulf Kirstens anlässlich der Verleihung des Walter-Bauer-Preises 2008 an Peter Gosse und das Nachwort von Jens-Fiete Dwars, die das Buch beschließen, geben einige Einblicke in die von Kenntnisreichtum geprägte Persönlichkeit des „spätbarocken Expressionisten“. Peter Gosses neuer Essayband, der von den eigens dafür erschaffenen kraftvollen Zeichnungen Volker Stelzmanns trefflich bereichert wird, sei allen an Dichtung und Lesegenuss Interessierten ans Herz gelegt. Nicht unerwähnt bleiben soll letztlich die wunderschöne bibliophile Aufmachung des Buches in zweifarbigem Druck.

 

Peter Gosse:  Über das allmähliche Verfertigen von Welt im Dichten. Essays

Hrsg., gestaltet und mit einem Nachwort versehen von Jens-Fietje Dwars. Mit sechs Zeichnungen von Volker Stelzmann. 128 Seiten, Zweifarbdruck in Schwarz und Rot,Fadenheftung in Engl. Broschur mit handmont. Etikett in Prägung, zinnoberrotes Vor- und Nachsatzpapier, schwarzer Lesefaden, 500 num. Expl.

50 Vorzugsexemplaren liegt je eine signierteRadierung „Porträt Gosse“ von Volker Stelzmann bei,gedruckt von der Kupferdruckerei Dieter Béla.

ISBN 978-3-943768-12-1, Edition Ornament im quartus-verlag

Vorzugsausgabe Nr. 1-50: EUR 59,90 EUR, Normalausgabe Nr. 51-500: EUR 14,90 EUR

(von Maren Schönfeld)