Archiv der Kategorie: Geschichten

Sandtorte

Die Küche, immer blitzsauber, roch nach Ferien, als sei vor Kurzem gebacken worden. Die Schüsseln aus braunem Steinzeug rochen irden, ein klarer Duft. Bei ihrem Anblick und wenn ich eine herausholen sollte aus dem Schrank, wenn ich ihre kühle Glätte spürte, dachte ich an den Krieg. Denn mir war gesagt worden, dass diese Schüsseln aus der Kriegszeit stammten. In der größten der drei rührte meine Großmutter Kuchenteige an, mit einem Holzlöffel und nur in eine Richtung, wenn es ein Sandkuchen werden sollte. „Sandtorte“ hieß das bei uns, obwohl es mit einer Torte nichts zu tun hatte. Ich beobachtete fasziniert, wie aus Fett, Eiern, Zucker und Mehl nach und nach eine homogene Masse entstand. Großmutter hielt die Schüssel mit dem linken Arm an ihren Leib gedrückt und rührte mit rechts. Endlos. Wenn alles gut verrührt war, stellte sie die Schüssel auf der Arbeitsfläche ab. Nun durfte ich auch rühren, schaffte aber kaum mehr als drei oder vier Runden. Aus der Kriegszeitschüssel füllte Großmutter den Teig in die noch ältere Kastenform, die aus dem Haushalt meiner Urgroßmutter stammte. In der folgenden Stunde lief ich immer wieder zum Herd, um durch das Fenster der Ofentür zu schauen, ob der Kuchen aufging.

In all den Jahren
hatte sie nie einen Fleck
Großmutters Schürze

Felsenfest

Wie immer stellt er fest, steht es fest, unumstößlich, steht er im Raum wie eine Wand. So war es zeit ihres Lebens gewesen. Vater und sein felsenfester Standpunkt. Nie hat Mutter dagegen aufbegehrt. Sie, die Tochter, erst recht nicht. Und nun erscheint es ihr wie ein stiller Protest, eine nachträglich für 30 Ehejahre aufbrechende, geballte Renitenz. Mutter vergisst das Mittagessen, die Wäsche, den Staubsauger. Sie pflückt Blumen aus dem Garten und verschenkt sie an Passanten. Sie macht die Nacht zum Tag. Sie tanzt im Wohnzimmer zu einer Musik, die es nur in ihrem Kopf gibt.

 „In unserer Familie gibt es keine Demenz“, donnert er, als die Polizei  Mutter bringt. Sie guckt durch die Tür, wendet sich dann an den Polizisten.

„Das ist nicht mein Zuhause.“

Es ist noch da

Ein Text von mir für die Reihe @introspektivminiaturen der http://www.prosa_ist_innen.de

Sie hatte alles zurückgelassen: die Möbel, die Wohnung, die Wege, die Stadt. Die Menschen, die ihr Leben ausgemacht hatten. Ein neuer Ort, neue Menschen. Alles neu. Und dann saß sie in ihrer Küche, still, am Fenster. Und plötzlich merkte sie, dass es mitgekommen war, sich augenscheinlich unbemerkt an ihre Fersen geheftet hatte. Der Duft frisch renovierter Zimmer konnte nicht darüber hinwegtäuschen: Es stand im Raum, übermächtig. Sie spürte, wie die Verzweiflung langsam in ihr hochkroch, von den kalten Füßen bis zum Hals. Wie sie ihr die Luft fast abdrückte. Sie zwang sich, tief zu atmen, aus dem Fenster zu sehen, ins Grüne. Ihren Tee zu trinken, kleine Schlucke, einen, zwei, drei. Die Verzweiflung mit Tee runterzuspülen. Es wartet auf sie. Gewiss.

Stade trifft Hamburg

Bei der Offenen Lesebühne Hamburg-West wird es am 19. Januar 23 ein besonderes Zusammentreffen geben: Die Autorin des Abends, Sulamith Sommerfeld aus Stade, wird ihre wunderbaren Gedichte vorlesen. Diese Gelegenheit habe ich beim Schopfe gepackt, um die Stade-Fraktion zu verstärken. Mein Autorenfreund Thomas Dunse aus Stade liest ebenfalls und ich als Halb-Staderin werde die dritte im Bunde sein.

Thomas und ich kennen uns seit fast 30 Jahren, hatten in Stade früher einen gemeinsamen Literaturkreis und haben schon Lesungen zusammen gemacht. Um Sulamith kennenzulernen, mussten sie und ich allerdings erst nach Weßling bei München reisen, wo wir zusammen an einem Literaturseminar bei Anton G. Leitner teilnahmen. Das ist ungefähr 20 Jahre her. Seitdem begegneten wir uns hin und wieder, einige unserer Gedichten fanden in dieselben Literaturzeitschriften. Im letzten Jahr schrieb sie mir, worüber ich mich sehr freute, wir trafen uns und sind jetzt im enger werdenden Gespräch und Kontakt.

„Die Maschine“, Thomas Dunse

Sulamiths und meine Gedichte haben thematische Überschneidungen, auch wenn wir sehr unterschiedlich schreiben. Thomas ist ein Realpoet und bildet einen Kontrast, auch wenn er wie Sulamith und ich Themen des Zeitgeschehens und des Daseins in Prosa und Lyrik verhandelt.

Dies ist also eine Gelegenheit, meine Stader und meine Hamburger Gemeinschaft Schreibender auch zum Austausch zusammenzubringen und für die Gäste ebenfalls ein feiner Anlass, mal wieder Gedichte zu hören. Ich werde aus den Engel-Gedichten lesen.

„Engelschatten“, Maren Schönfeld, Verlag Expeditionen

Offene Lesebühne Hamburg-West im Stadtteilzentrum „Die Motte“,
Eulenstr. 43, 22765 Hamburg
Donnerstag, 19. Januar 23, 19 Uhr
Eintritt 2 Euro

Verheddert in der Weltwahrnehmung*

Die Schweizer Lyrikerin Ruth Loosli hat mit „Mojas Stimmen“ ihren ersten Roman vorgelegt, der mit ausgefeilter Erzählkunst, dichter Atmosphäre und geschliffener Sprache beeindruckt.

Ruth Loosli
(Foto: Anne Bürgisser)

Hauptpersonen der Erzählung sind Paula und ihre fünfundzwanzigjährige Tochter Moja, die durch eine psychische Erkrankung buchstäblich aus dem geregelten Leben mit eigener Wohnung und Arbeitsplatz fällt. Vor Paulas Augen verschwindet Moja in eine für die Mutter unerreichbare und unverständliche Welt, in der Moja Stimmen hört, die ihr diktieren, was sie tun soll. Unermüdlich sucht Paula Wege zu ihrem Kind und muss sich doch abgrenzen, ist zwischen Wut und Verzweiflung hin- und hergerissen, will alles regeln und ordnen und muss erleben, dass sich diese Situation nicht ordnen lässt.

Das Thema ist in einer Zeit, in der viele junge Menschen Depressionen und andere psychische Krankheiten entwickeln, hochaktuell. Das Phänomen, dass vor allem junge Männer keinen Drang mehr verspüren, das elterliche Zuhause zu verlassen und selbstständig zu werden, lässt die betroffene Elterngeneration vielfach ratlos zurück. Eine Studie aus dem Jahr 2019 ergab, dass junge Erwachsene ihr Elternhaus im Schnitt mit 23,7 Jahren verlassen, was im europäischen Vergleich noch früh ist. In Kroatien verlassen die Kinder dagegen erst mit fast 32 Jahren ihr Elternhaus.[i]

Auch Paula überlegt, ihre erkrankte Tochter wieder zu sich zu nehmen, aber sie erkennt, dass das nicht möglich ist, dass sie sich dann nicht mehr würde schützen können. Ohnehin fühlt sie sich der Situation hilflos ausgeliefert, und ihre zupackende, organisierende Art hilft ihr in diesem Fall nicht – eher im Gegenteil. Sofort ist Moja verprellt und „macht dicht“, sobald ihre Mutter tatkräftig die Probleme angehen will, mit ungeöffneter Post kommt und fragt, wann Rechnungen bezahlt werden. Es ist ein ständiger Balanceakt aus dem Versuch, Nähe herzustellen, und dem immer wieder geschehenden Bruch, wenn Moja plötzlich fortgeht. Beim Lesen bangt man schon vor jedem Treffen, dass es wieder passiert.