„Es war der erste Tag ihres neuen Lebens…“

Zum zweiten Mal in diesem Jahr gewinne ich mit dem Prosatext „Das Wunschkind“ den ersten Preis! Bin sehr glücklich und bedanke mich bei der Hamburger Autorenvereinigung und dem Publikum des gestrigen Abends herzlichst! Ebenfalls herzlich gratuliere ich Rainer Lewandowski zum zweiten und Reimer Boy Eilers zum dritten Preis.

Unten findet Ihr eine kleine Fotogalerie und hier könnt Ihr meine Kurzgeschichte lesen:

Das Wunschkind

Es war der erste Tag ihres neuen Lebens, allein mit dem Kind. Es schlief. Der Vater war bei der Arbeit. An diesem Tag würde niemand mehr zu Besuch kommen, alle hatten ihre Antrittsbesuche gemacht. Die Hebamme war morgens da gewesen, ihr war nichts Ungewöhnliches aufgefallen oder sie ließ sich nichts anmerken. Das Kind atmete ruhig.

Außer seinem Atmen und ihren eigenen Atemzügen war nichts zu hören. Nicht einmal ein Uhrenticken. Als Kind hatte Sandra dem Uhrenticken in ihrem Elternhaus zugehört, manchmal stundenlang. Es hatte sie beruhigt. Sie wusste nicht, ob sie jetzt beunruhigt war. Neue Wörter hatten Einzug gehalten: Vater war zwar kein neues Wort, aber im Zusammenhang mit Tim war es noch nicht gefallen. Und sie war Mutter und nicht mehr nur Sandra. Die Mutter. Endlich. Fünf Jahre voller Frust, Sex nach dem Kalender. Ihre Gedanken kreisten nur noch um ein Kind. Tausend demütigende Momente vor Schaufenstern mit Babyartikeln und beim Anblick der vielen glücklichen Mütter. Hormonbehandlungen. Und dann, als Tim schon aufgeben wollte, passierte es endlich.
Aufgenommen in den Kreis der Schwangeren, hatte Sandra das Recht durch Kaufhäuser zu streifen, Babysachen zu kaufen und sie in den Schrank zu sortieren. Vorsorgeuntersuchungen und Geburtsvorbereitungskurse. Sandra war auf alles vorbereitet. Sie rechnete damit, gleichzeitig zu heulen und zu lachen, wenn es geschafft wäre. Sie war gefasst darauf, die Geburt nur knapp zu überstehen, wie alle Frauen in ihrer Familie Geburten nur knapp überlebt hatten.

Als sie ihr aber das Baby nach fast zwanzig Stunden auf den Bauch legten, fühlte sie nichts. Und darauf war sie nicht gefasst. Sie sah Tim neben dem Bett stehen, seinen glückstrahlenden Blick, fühlte seinen Kuss auf ihren Lippen. Versuchte, den Kuss zu erwidern. Betrachtete das Wesen auf ihrem Bauch, das ihr kein Gefühl entlockte. Das Einzige, was sie wollte, war schlafen.

Als sie aufwachte, sah sie das Kind neben sich in einem kleinen Bettchen liegen. Sie wartete auf überbordende Glücksgefühle, von denen sie in Ratgebern gelesen hatte. Es kam nichts.
Aber Aufgaben kamen auf sie zu. Aufgaben, an denen sie scheitern konnte. Das Kind sog an ihrer Brust, aber es kam keine Milch. Die Beteuerungen der Krankenschwestern, das käme öfter vor, klangen hohl in ihren Ohren. Jede Mutter konnte stillen, nur sie nicht.
Die nächste Aufgabe waren die Besucher. Alle schwärmten vom Babygeruch und vergruben begeistert ihre Nasen in seinem Bauch. In Sandra rief der Geruch nichts wach. Sie war nicht einmal sicher, dass sie ihn überhaupt wahrnahm, einen Duft, von dem man nicht genug kriegen konnte.
Der erwartungsvolle Blick des Vaters, der vorher einfach Tim gewesen war und der diesen Wechsel nicht bewusst zu vollziehen, nicht einmal zu bemerken schien, dieser Blick ließ sie erkennen, dass dies die größte Aufgabe werden würde: Mutter seines Kindes, glücklicher Teil der richtigen Familie zu sein. Sie hatte vorher nie über beobachtete und unbeobachtete Momente nachgedacht. Ihr Leben, ihre Zeitrechnung teilte sich jetzt in vor der Geburt und danach. Vorher hatte es keine beobachteten Momente gegeben, keine belauernden Blicke, keinen Argwohn, ob mit Sandra irgendetwas nicht stimmte.
Sandra übte vor dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken ihr Muttergesicht ein, orientierte sich dabei an ihren Erinnerungen an die Mütter, die sie vorher beneidet hatte. Freude, Glück, Stolz. Übte und übte. Sobald die Tür aufging, setzte sie das Muttergesicht auf. Wenn es nur nicht zu maskenhaft geriet. Aber es schien glaubhaft. Wenn alle gegangen waren, fühlte sie nichts für das Kind, aber sehr viel gegen sich. Sie scheiterte an einer Aufgabe, die doch ihre Natur sein sollte.

In den ersten Tagen zu Hause war Tim glücklich mit dem Kind. Sie überließ es ihm und empfand die beiden als Einheit. In beobachteten Momenten lächelte sie muttergesichtig, dabei wäre sie am liebsten heulend im Schlafzimmer verschwunden. Als Tim wieder zur Arbeit musste, sah sie dem Auto von der Eingangstür aus nach, wie es davon fuhr. Zu den neuen Wörtern kam ein weiteres: allein. Allein hatte eine neue Dimension.
Das Kind riss sie aus ihren Gedanken. Widerstrebend schaute sie in den Stubenwagen, bereitete dann ein Fläschchen zu und setzte sich mit dem Kind hin. Sah zu, wie es trank. Rausgehen, dachte sie, das hatte die Hebamme gesagt. Sich nicht vergraben.

Andere Mütter lächelten ihr zu, wie man jemandem zulächelt, der das Gleiche erlebt hat wie man selbst. Ein Verschwörungslächeln. Das Muttergesicht lächelte zurück. Sie schob den Kinderwagen vor sich her, das Kind war wie meistens still, ein liebes Kind, wie die Hebamme betont hatte. Ein unkompliziertes Kind, das kaum schrie und lange am Stück schlief. Sie hatte es nicht verdient, davon war sie jetzt überzeugt, und darum konnte sie es auch nicht lieben.
Sandra fand sich irgendwann vor ihrem alten Laden wieder, den sie verkauft hatte, als sie sich auf nichts anderes mehr konzentrieren konnte als schwanger zu werden. Sie ließ den Kinderwagen stehen und ging hinein, sah sich um, als wäre sie zum ersten Mal hier. Sie berührte Dosen und Kästchen, betrachtete Gläser und Porzellan.
„Ist das Ihr Kind?“, fragte plötzlich eine strenge Stimme. Sandra fuhr herum, sah eine Verkäuferin vor sich, die nach draußen wies. Langsam wandte Sandra den Kopf, eine kleine Menschentraube hatte sich um den Kinderwagen versammelt. Das Kind weinte leise. Sie ging wortlos hinaus und eilte mit dem Kinderwagen um die nächste Hausecke. Was alles hätte passieren können, schalt sie sich. Wie konnte sie den Kinderwagen ohne Aufsicht lassen! Jemand hätte das Kind entführen können!
Entführen. Wegführen, weg von ihr, weg von dem falschen Muttergesicht. Jetzt merkte das Kind vielleicht noch nichts, aber später würde es herausbekommen, dass seine Mutter eine falsche Mutter war.
Sie ging in den leeren Park, ließ den Kinderwagen stehen, setzte sich auf eine Bank, von der aus sie ihn gerade noch sehen konnte.
Und wartete. Wartete. Aber es kam niemand.

Irgendwann hörte sie das Kind weinen. Erst leise, dann lauter, verzweifelter und kläglicher. Es weinte, als ob es wüsste, dass es allein war. Allein in einer neuen Dimension. Plötzlich verstand sie, hielt es nicht mehr aus, sprang auf.
Sie lief zurück, riss das Kind an sich, drückte es, fast zu fest. Legte es, als es ruhig wurde, wieder in den Wagen, deckte es zu und beeilte sich nach Hause zu kommen.

Bis zum Abend hatte sie sich wieder in der Gewalt. Es fiel ihr heute leichter, das Muttergesicht aufzusetzen, als Tim abends kam. Wie immer zog er die Jacke aus und hängte sie auf den Garderobenhaken im Flur. Wie immer trat er an den Stubenwagen und betrachtete das Kind.
Dieses Mal stellte sie sich dazu.

Fotogalerie

Fotos: Wolfgang Schönfeld

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