Lektorat ohne Autorin: meine starke Freundin Hilda

Die junge Feministin Hilda van Suylenburg, nach dem Tod ihres Vaters bei dessen Schwester gestrandet, fühlte sich dort buchstäblich im falschen Film. Sie wollte nicht in der oberflächlichen Welt ihrer Cousinen versauern, sondern Arbeiten. Arbeiten! Auf eigenen Beinen stehen, aber auch Erfüllung in der Arbeit finden. So begann ihr aufsässiger Weg gegen die patriachalischen Strukturen der bessergestellten Gesellschaft. Mit einer beispiellosen Hartnäckigkeit und Sturheit setzte sie durch, dass sie arbeiten durfte. Ihr Kampf mit dem Pfarrer und der Welt ist das Thema des Romans.

Unsere Welten verschwimmen

Ich strich unendlich viele „so“s und Adjektive, Füllwörter, kürzte Bandwurmsätze, sortierte Namen, die in der Übersetzung von Else Otten im Laufe der Geschichte auch mal anders geschrieben worden waren als zu Anfang. Ich fertigte eine Liste der wichtigsten Figuren an. Ich fand mich in allen Frauenfiguren wieder, in jeder ein bisschen, in einigen ein bisschen mehr. Jeden Abend half mir dieses Buch, zu mir zu kommen, es geschah etwas Wundersames, denn in der Arbeit mit dem Buch kam ich zur Ruhe. Es war, als spräche diese unbeugsame junge Hilda van Suylenburg mir Mut zu, nicht aufzugeben. Als wartete sie abends auf mich, um mich mit ihren Erlebnissen abzulenken und aufzurichten. Wir kämpften in verschiedenen Zeiten und auf verschiedenen Schauplätzen, aber mir kam es vor, als fänden wir jeden Abend auf einer eigenen Ebene zusammen. Es gab Parallelen, so empfand ich es. Das Arbeiten gegen Institutionen 1897 und 2025. Die Enttäuschung und Fassungslosigkeit, die Respektlosigkeit gegenüber den Gefühlen und der Würde. Was können wir schon ausrichten, was kann eine einzelne Frau schon bewirken?

Nicht aufgeben, hörte Hilda von ihrer älteren Freundin Cora van Oven, die als Ärztin die Frauen der armen Familien unterstützte. Nicht aufgeben, schien Hilda mir zuzurufen, wenn ich wieder Angst hatte, dass man meinen Mann einfach entlassen würde, in Missachtung seiner Hilfsbedürftigkeit. So legte ich mich mit allen an, dem Krankenhaus, dem Beschwerdemanagement, dem Oberarzt und der Pflegekasse. Hilda legte sich mit ihrem Onkel an, mit dem Pfarrer, mit einem schnöseligen Verehrer. Den ganzen Februar über schien es mir, als kämpften wir Seite an Seite. Manchmal kämpfte ich auch ganz schön mit dem Text, herrje! Ich wollte noch einen und noch einen und noch einen Korrekturdurchgang lesen, aber natürlich hatte der Verlag einen Terminplan für das Erscheinen des Buches.

Den Ruf vernommen?

Ende Februar hatte mein Mann endlich einen Pflegegrad und einen Pflegeplatz. Er kommt zunehmend zur Ruhe und wir hoffen auf Besserung der Folgen seines Sturzes.
Und kurz danach war ich mit dem dritten Korrekturdurchgang fertig und löste mich schweren Herzens von dem Buch. Ich bin immer traurig, wenn ein längeres Projekt fertig ist, egal, ob ich es selbst schreibe oder jemanden bei dem eigenen Projekt begleite. Aber dieses Mal fiel es mir besonders schwer, denn die Abende mit Hilda hatten mir gutgetan. Ich habe auch etwas verstanden durch das Lektorat: Wir müssen immer noch rufen und den Ruf vernehmen, denn es ist noch sehr viel Luft nach oben in der Emanzipation. Heute sagt man gender pay gap, wenn man die Differenz zwischen der Bezahlung gleicher Arbeit von Männern und Frauen meint. 2024 lag der gap in Deutschland bei 16 Prozent. Der Anteil von Frauen in Führungspositionen lag im selben Jahr bei rund 24 Prozent. Frauen können noch immer nicht über Abtreibung entscheiden und werden als Alleinerziehende oftmals zum Sozialfall, weil sie keine Kinderbetreuung finden, die sich mit ihrer Arbeit vereinbaren lässt. Klingt das nach Fortschritt?

Fazit: „Frauen, die den Ruf vernommen … – Hilda van Suylenburg“ ist immer noch aktuell. Ich bin stolz und glücklich, zur Neuauflage in einer bibliophilen Ausgabe beigetragen zu haben.

Am 1. Mai werde ich das Buch in der Alfred-Schnittke-Akademie vorstellen. Seid ihr dabei?

Donnerstag, 1. Mai, 15:30 bis 17:30 Uhr
Hamburger Autorenvereinigung
Tiefgründige und humorvolle „Perlen der Literatur“
Fünf neue Bücher aus dem Input-Verlag (Wilhelm Busch, Christof Stählin, Cécile de Jong, Guy de Maupassant, Thomas Mann) mit Charlotte Ueckert, Maren Schönfeld und Ralf Plenz.
Musikalische Begleitung mit Stählin-Liedern: Holger Saarmann, Gitarre
Eintritt: frei

Nach dem Pirckheimer-Treffen mit Bücherflohmarkt am selben Ort von 11 bis 15 Uhr

4 Kommentare zu „Lektorat ohne Autorin: meine starke Freundin Hilda

  1. Hallo Maren, ich hoffe, deinem Mann geht es besser. Wenn du Hilfe brauchst, melde dich gern bei mir. Email Adresse hast du ja.

    Ansonsten stecke ich auch gerade in meinem autobiographischen Buch fest. Es fließt nur so, aber mir fehlt die Zeit.

    LG Manu

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  2. Liebe Frau Schönfeld,

    nun konnte ich zugegebenermaßen (noch?) keinen besonderen Zugang zu Cécile de Jong und ihrer Protagonistin gewinnen, aber Ihren Worten bei der gestrigen Buchvorstellung habe ich dennoch mit solch großem Interesse gelauscht, dass ich noch einmal nach alledem googlen musste.

    Entsprechend spannend fand ich auch diesen Blog-Eintrag (und wünsche übrigens weiterhin gute Besserung für Ihren Mann).

    Über die Arbeit einer Lektorin hatte ich mir nämlich generell noch nie große Gedanken gemacht. Und dann zudem an diesem speziellen Fall etwas über Ihre Vorgehensweise zu lernen, fand ich wirklich faszinierend.
    (Meine eigener Hintergrund ist in der Altphilologie — und antiken Texten nähert man sich natürlich noch einmal anders: Platon würde man wohl kein einziges δέ wegstreichen wollen.)

    Alles Gute und viele Grüße aus Kiel
    Jan V. Martin (Ihr Sitznachbar aus der 1. Reihe)

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    1. Lieber Herr Martin, vielen Dank für Ihren Kommentar. Es freut mich, dass der Einblick in die Lektoratsarbeit für Sie faszinierend war. Ich kann mir vorstellen, dass Ihr Gebiet eine völlig andere Herangehensweise erfordert, das ist wiederum für mich sehr spannend und ich schaue mich gleich mal auf Ihrem Blog um. Wie schön, dass Sie gestern in Hamburg waren! Herzliche Grüße!

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